Stoffsammlung: Rest in Punk, Vivienne Westwood

"Ich will nur die Welt retten und ein Leben haben"

Menschen, die Mode nicht mögen, werfen Designer:innen oft vor, sie würden versuchen, die Welt zu einem oberflächlichen Ort zu machen. Aber jede:r, die:der Mode wirklich liebt, weiß, dass es andersherum ist. Tiefgang wird in der Mode belohnt. Niemand bewies das so sehr wie Vivienne Westwood. Die britische Designerin ist für ihre Entwürfe gefeiert worden, aber was sie berühmt machte, war das, was hinter ihnen steckte. Sie hat die Politik in die Mode gebracht – und den Punk.

Der größte Punk der Mode, Vivienne Westwood

Vivienne Westwood ist im Dezember 2022 im Kreise ihrer Familie verstorben. Vor Beginn der Londoner Modewoche in diesem Jahr wurde zu Ehren Westwoods eine Gedenkfeier ausgerichtet und alle fünf folgenden Tage der Modewoche waren der britischen Designerin gewidmet. Denn ein eleganter Verstand wünscht sich elegante Abschlüsse. Und Westwood hatte einen überaus eleganten Verstand. Sie wollte den verrotteten Status quo, die überbordende Ungerechtigkeit der Welt bekämpfen durch die Art und Weise, wie sie sich und andere kleidete. Auf eine clevere Art: „Anstatt sich den Kopf am Establishment zu stoßen, muss man schneller sein als das Establishment“, sagte die Designerin in einem Interview im Jahr 2006. Und doch war und tat sie oft das Gegenteil von dem, was man von ihr erwartete. Denn mit dem Tiefgang kam auch die Widersprüchlichkeit. Westwood war Punk und Millionärin, sie war Anti-Establishment und Establishment, sie war Protest und Profit zugleich — und trotzdem keine Heuchlerin. Wie viel Widersprüchlichkeit hält eine Person aus?

29. Dezember 2022, das wohl meist-geteilte Bild des Tages: „RIP Vivienne Westwood“

Widerspruch war Westwoods Stilmittel von Beginn an. Mit ihrer fast schamlosen Verknüpfung der Stile, der Unerhörtheit, mit der sie Gaffertape auf Brustwarzen klebte und Reißverschlusshosen im schottischen Tartanmuster mit „Bondage“-Strippen verzierte, drang Vivienne Westwood in den innersten Zirkel der Modebranche vor. Ihr Debüt auf dem Catwalk feierte sie 1981 mit einer Piratenkollektion. Motto: Lasst uns die Welt plündern. Darauf folgte Buffalo Girls und Punkature und Witches. Mit der Mini Crini-Kollektion ließ sie viktorianische Klassiker auf Punk prallen. Dann kam die Harris Tweed-Kollektion, eine Parodie des britischen und royalen Kleidungsstils. Mitte der 90er-Jahre war Vivienne Westwood als Label in der Branche etabliert. Irgendwann waren Westwood und ihre Entwürfe so unübersehbar, dass sogar das Establishment sich vor ihr verneigte. Und sie ließ es zu. 1992 wurde die Queen des Punk von der Queen des Vereinigten Königreichs, Elizabeth II. zur Ritterin geadelt. Seither trug Westwood den ehrenvollen Namen „Dame Commander“. Im Laufe ihrer Karriere kämpfte sie gegen das Establishment, gegen Atomwaffen und für die Arktis, den Regenwald, den Tierschutz.

Die immer-politische Dame Westwood

Als eine der ersten Designer:innen überhaupt griff sie das Bild der Proteste in ihren Shows auf und ließ die Models statt mit ausdrucksloser Miene mit Plakaten und politischen Slogans über den Laufsteg stürmen. „Buy Less, Choose Well, Make it Last“, wurde zu ihrem ganz persönlichen Schlachtruf. „Trage die Dinge, die du ausgewählt hast, die du wirklich liebst und die von Dauer sind. Das ist Status”, sagte die Designerin einmal. Von Anfang an galt sie als Gegnerin der Verschwendungs- und Konsumsucht der Fashion-Industrie. Und trotzdem machte die Mode sie zur Millionärin. Mit über 60 weltweiten Stores baute sie mit ihrem Label Vivienne Westwood ein Imperium auf, das schätzungsweise über 245 Millionen Dollar schwer ist. Als Westwood mit ihren stacheligen Punk-Frisuren gegen gängige Schönheitsideale und überhaupt gegen alles Gängige rebellierte, tauchten nur ein paar Monate später Models in der Vogue mit eben jener stacheligen Kurzhaarfrisur auf. So als würde Westwood nicht dem System schaden, das sie kritisierte, sondern im Gegenteil Werbung dafür machen. Sie prangerte eine Industrie an, die sie berühmt gemacht hat. Sie lehnte sich gegen das Establishment auf, von dem sie selbst ein wesentlicher Bestandteil wurde. Und während sich die Designerin über den verschwenderischen Zustand des Bürgertums beschwerte, wurde ihre eigene Mode immer teurer. Trotzdem fühlte es sich nicht heuchlerisch an. Wieso? Was macht eine bekennende Modeanarchistin überhaupt im bürgerlichen Paris? Wurde Westwood einmal von einem Journalisten im Anschluss einer ihrer ersten Shows in Paris gefragt. Westwoods Antwort: „Man tut, was man tun muss. Ich will nicht im Untergrund bleiben. Ich will dort sein, wo ich so viel Aufmerksamkeit bekomme wie nur möglich.“ Nach dem Motto: Ich bin viele. Na und?

Nach Westwoods Tod ging die Rote-Teppich-Präsenz steil in die Höhe: Elle Fanning auf der MET-Gala, Elizabeth Banks auf der Oscar Verleihung und sogar Katy Perry bei ihrem Auftritt bei der Krönungsfeier von König Charles III.

In einer Zeit, die immer wieder von Krisen und ständiger Veränderung geprägt ist, sehnen sich Menschen, so scheint es, nach Held:innen, nach Ikonen, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen und Orientierung bieten. Westwood könnte eine dieser Heldinnen gewesen sein. Doch wenn wir Menschen auf dieses Podest heben, sie derart heroisieren, scheint es oft, als müssten sie makel- und fehlerlos sein. Frei von allen Widersprüchen. Dann stellt sich unmittelbar die Frage, wie wir den Menschen sehen wollen, wie vielseitig der:die Einzelne sein darf, wie eindeutig er:sie sein muss, um von uns geliebt, verehrt oder respektiert zu werden. Doch Westwood war nie eindeutig, nie widerspruchslos. Sie war ein von der Queen geadelter Punk, eine Konsumkritikerin, die mit ihrer Mode reich wurde und ihr Label später doch für ihren Umweltaktivismus vernachlässigte. Westwood war eine Heldin, weil sie ihre Stimme genutzt hat, um die Welt ein bisschen aufzurütteln. Und das ist das eigentliche Lehrstück des Punks, das Westwood gelebt und gelehrt hat: Man muss nicht widerspruchslos sein. Und kann trotzdem oder gerade deswegen der Fortschritt sein.

Korsett und Rock VIVIENNE WESTWOOD fotografiert von Konrad Waldmann für ACHTUNG No. 41 „Wahnsinn Wannsee“

Greta Hofer und Freundin Chiara tragen Archiv-Kleider ANDREAS KRONTHALER FOR VIVIENNE WESTWOOD (Handgefertigt in Österreich von Tostmann Trachten) fotografiert von Anna Breit für ACHTUNG No. 42 „Hausbesuch“

2016 wurde Westwood in einem Interview mit der britischen Modezeitschrift i-D gefragt, was sie über das Wort Ikone denke. „Nun, das interessiert mich nicht“, hatte sie geantwortet. „Zehn Jahre nach meinem Tod wird sich niemand mehr an mich erinnern. Es spielt keine Rolle. Es ist mir egal. Ich will nur die Welt retten und ein Leben haben.” Westwood ist eine willkommene Erinnerung daran, was diese Modebranche hervorbringen kann: Menschen, die trotz aller Widrigkeiten und Widersprüchlichkeiten den Mund aufmachen und die Welt mit ihrer Stimme und ihren Entwürfen etwas abverlangen statt sie zu besänftigen: „Sei vernünftig. Fordere das Unmögliche“, stand auf einem der ersten Westwood-Entwürfe.

“Be Reasonable, Demand The Impossible”

This article first appeared in ACHTUNG Nr. 45 “Neben Saison”

Illustration by Sarah von der Heide