Erschreckend schön

Fotografiska: Neues Kulturzentrum im Herzen von Berlin

Julie Poly hat die Klänge ihrer Heimat nach Berlin gebracht. Wer kurz die Augen schließt, steht in Stachanow auf der Straße, läuft durch Wohnviertel und hört Menschen und den Verkehr in der Region Luhansk im östlichen Ende der Ukraine. Ein Gebiet, in das es gerade unmöglich ist zu reisen. Man begleitet einen Teenager während eines Spaziergangs durch die Stadt, die immer wieder unter Beschuss des russischen Militärs steht. Die Fotografin Julie Poly hat diesen Ort nach Berlin geholt. In die Atelier Gardens, in Berlin Tempelhof, im ersten Stock. Hier lief der Klang des Krieges für drei Tage in Dauerschleife.

Julie Poly featured in ACHTUNG No. 44 “Beruhigt Euch Nicht!”

Die Fotografiksa lud Poly und andere Künstler*innen und Fotograf*innen dazu ein, während der Fotografiska Days ihre Werke auszustellen. Während der dreitägigen Veranstaltungsreihe sollte unter dem Titel „Cultural Fabric – Die Beziehung zwischen Mode- und Kunstpraktiken neu lesen“, verhandelt werden, was seit Jahrhunderten als symbiotisch gilt: Die Kunstwelt und die Welt der Mode in all ihren Auswüchsen. Was hat Mode mit Krieg zu tun?

 

Für Poly sind es die Soldat*innen der Ukraine, die ihre Heimat vor der russischen Aggression schützten, aber es sind auch die Krieger*innen der Kultur, die für die Ukraine kämpfen. Menschen aus verschiedenen Branchen, die weiter an der Entwicklung der Wirtschaft, der Kultur und der internationalen Sichtbarkeit der Ukraine arbeiten. „Meine neueste Arbeit fängt die parallelen Welten der ukrainischen Realität ein – die militärische und die zivile Sphäre“, sagt Poly.

 

Julie Poly; Exhibition image: ©Markus Glahn

Cibelle Cavalli Bastos; Exhibition image: ©Markus Glahn

Neben den Klängen ihrer Heimat sind zwei Fotos von Poly ausgestellt. Das erste Bild wurde 200 Kilometer entfernt von Kiew aufgenommen. In einer Militäreinheit, während einer Übung der Soldat*innen und der strategischen Planung der militärischen Verteidigung. Die Menschen auf dem Bild wirken, als folgen sie einer Choreografie, sie knien und zielen mit ihren Waffen, sie sprechen in Funkgeräte und schauen auf Bildschirme, sie tragen Stirnlampen und Camouflage. Sie bereiten sich auf die militärische Verteidigung der Ukraine vor.

 

Das zweite Bild ist in einem Studio entstanden und zeigt die Routine eines Fotoshootings. Jemand stylt, jemand leuchtet aus, jemand macht Haare und Make-up, jemand tippt auf einem Laptop. Sie bereiten die kulturelle Verteidigung der Ukraine vor. Die Menschen auf diesem Bild sind angeordnet wie die Soldat*innen in der Militäreinheit, als folgten sie der gleichen Choreografie. „Ich wollte das Leben der modernen Ukrainer:innen künstlerisch hervorheben, deren Entschlossenheit für die ganze Welt zu einem Symbol des Widerstands geworden ist.“ Ein Widerstand auf zwei Arten: der militärischen und der zivilen.

 

Julie Poly featured in ACHTUNG No. 44 “Beruhigt Euch Nicht!”

Die Kuratorin Marina Paulenka führt die Ausstellungsbesucher:innen der Fotografiska Days an Orte, die sonst oft unsichtbar bleiben. „Hier, bei den Panels und Gesprächen der Fotografiska Days, wird ein möglichst breites Publikum zum Austausch und zur Diskussion eingeladen“, sagt Paulenka. Neben Julie Polys Werken waren auch Arbeiten der Künstler:innen Anna Franceschini, Jojo Gronostay, Carlota Guerrero, Irene Ha, Šejla Kamerić, Mous Lamrabat, Zohra Opoku und Cibelle Cavalli Bastos ausgestellt.

 

Letztere konfrontierte die Besucher:innen der Ausstellung mit den Auswüchsen des Modekonsums, der wörtlich über uns hinauswächst. In Latex getaucht hängt Secondhandkleidung wie Stalaktiten von der Decke. Die Mode wirkt nicht mehr wie gewohnt beweglich und leicht, sie ist schwer und steif und irgendwie ekelerregend. Wie eine Lederhaut, die von einem Tier abgezogen wurde und nun tot von der Decke hängt. Und sie ist wie eine Haut, die einfach abgestreift wurde. Die Kleidung, die hier von der Decke hängt, ist die Kleidung, die sonst nur im globalen Süden zu sehen ist. Dort, wo westliche Industrieländer sie entsorgt, wenn sie nicht mehr als gut befunden wird, sie langweilig geworden ist, sie wertlos wird und schlichtweg verdrängt werden soll. Altkleidercontainer zu und weg ist das Problem. Hier in der Ausstellung Fotografiska Days begegnet man der Kleidung plötzlich wieder.

 

Es ist diese Art von Beklemmung, mit der die Ausstellung Fotografiska Days seine Besucher:innen anregt, über die Auswirkungen der Modeindustrie nachzudenken. Und die Symbiose von Kunst und Mode, von Kommerz und Kreativität kritisch zu hinterfragen. All das sollte nur ein Vorgeschmack sein auf die Eröffnung des Museums Fotografiska, das in der zweiten Jahreshälfte in das bekannte verlassene Kaufhaus in der Oranienburger Straße in Berlin einziehen wird. Das beliebte Gebäude soll wieder ein offenes Kulturzentrum im Herzen von Berlins Mitte verwandelt werden, mit Ausstellungen, einer Bar, mit Workshops und Bühnengesprächen. Um mit Bildern die Welt abzubilden in all ihrer erschreckenden Schönheit.

 

Julie Poly featured in ACHTUNG No. 44 “Beruhigt Euch Nicht!”

Title image: Julie Poly; Exhibition images: Markus Glahn