She photographed Anton Belinskiy in his Kyiv Studio in our Go East issue in 2020. Ever since then Julie Poly has been an important photographic voice in ACHTUNG. Julie fled to Munich 132 days ago with her husband, her mother and her dog. 41 days ago she gave birth to a baby girl called Hanna Lea.
Julie Poly ist eigentlich Zugbegleiterin. Aber sich Julie als Zugbegleiterin vorzustellen, ist wie Domenico Dolce und Stefano Gabbana als Steuerberater oder Rick Owens als Brautmodenverkäufer – nur schlimmer. Ein digitaler Besuch in der neuen Heimat der Fotografin. Es wird gleich schön und bedrückend. Es geht um Züge und Schwangerschaft in einem Kriegsgebiet. Es wird nackt.
Julie Polys Karriere beginnt mit einem Bild im Playboy. Julie ist eigentlich Yulia Polyashchenko, ihrem eigentlichen Namen. Die drei letzten Silben ihres Nachnamens gibt Yulia an ihrem 23. Geburtstag ab, von da an heißt sie Julie Poly. Zusammen mit einer Freundin läuft sie zur nächstgelegenen offenen Sandgrube in ihrer Heimstadt Stakhanov in Ukraine, wo Arbeiter an Wochentagen Sand abbauen. Sie wollen Fotos von sich vor den riesigen Sandbergen machen, um sich an diesen Tag zu erinnern. Und dann schießt Julie ein Foto, das sie von da an an alles erinnern wird, was nach diesem Tag kam.
Ihre Freundin zog ihr Oberteil aus. Sie fotografierte sie oben ohne – im Hintergrund die riesigen Sandberge und die Industrie der Stadt Stakhanov. Julie schickt das Bild zum Playboy, der einen Fotowettbewerb ausgeschrieben hat. Sie gewinnt und bekommt als Hauptgewinn eine Kamera. Von da an hört Julie nicht mehr auf zu fotografieren. Sie ist jetzt Julie Poly, Fotografin. „Wenn es eine Sache gibt, die ich 24 Stunden am Tag, jeden Tag machen könnte, ist es Fotografieren“, sagt Julie. Wenn Julies Karriere ein Zug wäre, ist dieses Bild von ihrer Freundin oben ohne auf dem Sandberg die Lok des Zuges. Der Motor, der ihre Karriere nach vorn treibt. Alles, was nach diesem Foto kommt, reiht sich wie Waggons an diesen Moment an.
Julie kramt in ihren Erinnerungen, legt sie wie Puzzleteile auf den Tisch, als wollte sie eine Fahrplankarte mit all den wirren Streckenverläufen und Stopps erstellen. Julie Poly hätte eigentlich Zugbegleiterin werden sollen. Sie hat ihren Abschluss an der Railway Universität in Kharkiv gemacht. „Aber nur, damit ich das Zertifikat meiner Mutter zeigen konnte“, sagt Julie. Sie wollte immer, dass Julie etwas „Sicheres“ lernte, etwas mit Fundament. Julie reizt stattdessen das Unvorhersehbare im Leben. Das Wagnis. Die Erotik. Sie wird Fotografin. Trotzdem ist da eine Leidenschaft für ukrainische Züge geblieben. Für eines ihrer bekanntesten Fotoprojekte, den Bildband Ukrzaliznytsia, fotografierte sie über Jahre dokumentarische und inszenierte Bilder in Nahverkehrszügen, vor allem in der Region Kyiv sowie in den östlichen und westlichen Teilen von Ukraine. „Wenn man in Ukraine mit dem Zug unterwegs ist, kann man alle möglichen Arten von Charakteren treffen: Gigolos aus der Provinz und Damen im Leopardengewand, strenge Geschäftsfrauen und junge Soldaten“, sagt Julie. Manche Strecken kenne sie so gut, dass sie an den zusteigenden Menschen erkennen könne, wo der Zug gerade hält. Wie ein Mikrokosmos der ukrainischen Gesellschaft: „Der Zug sieht aus wie eine einfache Eisenkonstruktion, aber in seinem Inneren ist er voller Leben“, sagt Julie.
Heute, im Juli 2022, sitzt Julie in einem neuen Abteil ihres Lebens. Sie sitzt in einem Zimmer in München, schwere Gardinen vor den Fenstern, ein einziges unruhiges Bild hängt an der Wand – irgendwas aus dem Surrealismus. Alles sieht so unaufdringlich aus wie die Einrichtung eines Hotelzimmers. Viel Julie sieht man noch nicht in diesem Raum. Julie ist vor 132 Tagen mit ihrem Mann, ihrer Mutter und ihrem Hund aus dem Krieg in Ukraine geflohen.
Julie war in Kyiv, als der Krieg begann. Eigentlich wollte sie bleiben. Aber für Julies Körper war der Kummer, die Angst und der permanente Stress zu groß. Julie war schwanger. Und schwanger im Krieg zu sein bedeutet auch: ein sehr verletzliches Leben in eine sehr unsichere Welt zu gebären. Julie hat sich entschieden zu gehen, doch irgendwie ist ein Teil von ihr dort geblieben, in Kyiv und in Stakhanov und in Lugansz, wo ihre Mutter zuletzt lebte: „Es ist nicht möglich, über etwas anderes nachzudenken als den Krieg. Es beeinflusst jeden Part meines Lebens“, sagt Julie und schaut über ihre Schulter in ihre neue Wohnung, als gehörten die dunklen Nachrichten und Sorgen zum Inventar.
Zwischen dem Sandberg, dem Playboy, dem Studium zur Zugbegleiterin und dem Zimmer in München reihen sich einige Zugabteile in Julies Leben. Julie Poly fotografierte in den letzten Jahren Projekte für alle großen Modemagazine: für die Vogue, Harper’s Bazaar, Dazed, Numéro Berlin und auch für die ACHTUNG. In der Zwischenzeit lebte Julie in Kharkiv, Kyiv und in Mailand und hat sich mit ihrer Arbeit auf dokumentarische Modefotografie spezialisiert.
Wie wird sich der Krieg in ihrer Arbeit zeigen? „Es gibt zwei Wege in meiner Arbeit, mit dem Krieg umzugehen“, sagt Julie: Der eine sei, die Geschichte des Krieges so zu erzählen, wie sie ist – abzubilden, was passiert. Aber manchmal, wenn Menschen harte Zeiten durchleben, erklärt Julie, würden sie sarkastisch und naiv werden, um gedanklich an einen anderen Ort zu gehen. Und das sei die zweite Möglichkeit: mit ihrer Arbeit die Realität zu verlassen. An einen Ort zu gehen, der nicht von Krieg, Mord und Zerstörung verdunkelt wird. „Ich könnte zum Beispiel Blumen malen“, scherzt Poly. Aber an dem Gedanken sei etwas Wahres: Ihre Arbeit habe immer schon diese Selbstironie gehabt, etwas Naives sei in fast all ihren Bildern zu finden. „Vielleicht vereine ich beides, das Reale und die Naivität“, sagt Julie. Aber bis sie wisse, wie sie den Krieg in ihren Bildern verarbeiten werde, brauche sie noch Zeit: „Du kannst nicht zurückschauen und dir überlegen, wie du damit in deiner Arbeit umgehst. Der Krieg ist meine Gegenwart, er passiert immer noch überall um dich herum.“
Wer genauer hinschaut, erkennt in Julies Bildern fast immer diesen Sandberg-Moment, der den Anfang ihrer Karriere ins Rollen brachte. Nicht selten sieht man nackte Haut auf ihren Bildern. In Szenen, die eigentlich dokumentarisch aufgenommen wurden, schleust Julie etwas Erotik ein. Ganz oft ist da dieser Moment, den Julie erlebt haben muss, als ihre Freundin plötzlich ihr T-Shirt auszog. Die Nacktheit in Julies Bildern hat etwas Überraschendes. Aus diesem Erotik-Gefühl hat Julie ein ganzes Magazin gemacht. In Ukraine verlegt sie das Erotikmagazin Грішниця. Zwischen den Seiten finden sich Fotostrecken, Texte, Malereien und Gedichte über Nacktheit, Selbstbestimmung und Sinnlichkeit.
Dann ist da in Julies Erinnerungsfahrplan noch ein anderes Foto, das lange vor dem Sandberg-Foto entstanden ist. Ein Mann mit kohleverschmiertem Gesicht, die Augen leuchten wie Scheinwerfer zwischen dem Ruß hervor, in seinen Armen hält er einen Hund. Im Hintergrund die Kohlemine, das Wahrzeichen von Julies Heimatstadt, die nach einem der tüchtigsten Minenarbeiter der Sowjetzeit benannt wurde: Alexey Stakhanov. Julie schoss dieses Foto ganz früh in ihrer Kindheit, es ist das Erste, an das sie sich überhaupt erinnern kann. Und bei diesem Foto geht es nicht darum, was nach dem Foto kam, was dieses Foto für ihre Karriere getan hat. Es geht um das, was war, um die Vergangenheit. Julie wird sich immer an dieses Bild erinnern, weil sie darin ihre Heimat sieht.