Woke Geschwader

Reklame 05: Victoria darf nicht sterben

Das Mädchen hat über all die Jahre so viel Mist gebaut, dass die Aufnahme der Vorstrafen eine ähnliche Szene ergäbe wie neulich bei Halston’s Lover Victor Hugo in der erfolgreichen Netflix-Serie, als er beim Aids-Test nach der Liste seiner Sexualpartner gefragt wird und der Sozialarbeiterin entgegnet: „Dafür wirst du ein paar mehr Seiten brauchen, Schätzchen.“ Denn Victoria hat sich nicht nur in Sachen Sexismus, Feminismus, Frauenbild und alberner Klamotte schuldig gemacht, es gab da ja auch noch diese Verbindung zu Jeffrey Epstein. Gut, davon mag die Kleine nichts gewusst haben. Wie es ja angeblich eh so viele Geheimnisse bei Victoria’s Secret gab, obwohl in Wahrheit alles so dermaßen offensichtlich war, dass die halbe Welt nicht weggucken konnte. Alles in allem würden die Anklagepunkte jedenfalls reichen, um diesen vermeintlichen Engel für immer von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Lebenslängliches Berufsverbot inklusive. Was passiert stattdessen? Victoria hat eine neue Anzeigenkampagne draußen. Mit ganz anderem Look. (Think Dove mit besserer Unterwäsche.) Dazu hat sie lauter neue Freundinnen. Oder nennen wir sie besser Bewährungshelferinnen, die Victoria freundlich dabei unterstützen, auf den rechten Weg zu kommen. Nicht zurückzukommen wohlgemerkt, ihr Runway war immer schon die schiefe Bahn. Eine komplette Resozialisierung ist hier also am Werk, was an sich eine hehre Sache ist, aber wir wissen ja längst um welches Kaliber es sich bei Vicky handelt. Nicht um ein etwas naives Mädchen, das nicht wusste, was es da tat, sondern um einen milliardenschweren Unterwäschekonzern, der jetzt vielleicht auch um seinen Ruf, aber vor allem um seine schwindenden Umsätze fürchtet. Warum genau muss man diesem Unternehmen unter die Arme greifen? 

Clockwise: Adut Akech, Priyanka Chopra Jonas, Amanda de Cadenet, Paloma Elsesser, Eileen Gu, Valentina Sampaio, Megan Rapinoe

Statt der legendären „Angels“ (Heidi, Gisele, Adriana, Karlie, Kendall et al.) gibt es jetzt das „VS Collective“, unter anderem mit den Models Adut Akech, Paloma Elsesser, der Fußballspielerin und Aktivistin Megan Rapinoe und der Schauspielerin und Tech-Investorin (wieder was gelernt) Priyanka Chopra Jonas. Der Begriff Besetzungscouch ist natürlich alte victorianische Zeit, aber bei diesem Casting wurde ganze Arbeit geleistet und ein beachtliches All-inclusive Paket geschnürt. Sieben tolle Frauen, „changemaker“ obendrein, das perfekte Woke Geschwader.Und alle müssen sich jetzt natürlich die Frage gefallen lassen: Warum macht ihr da mit? Des sicherlich sehr guten Honorars wegen? Womöglich. Aber all diese Ladys sind auch bislang keineswegs unterbezahlt. Rapinoe hat der New York Times bereits gestanden, dass sie beim ersten Kontakt auch erst mal laut: „WHAT?“ gerufen habe. Letztlich sei sie mit dabei, weil ihre Rolle über die der üblichen Markenbotschafterin hinausgehe. Sie könne im ganzen Narrativ beratend tätig sein, sogar bei den Produkten. Paloma Elsesser sagt, sie habe nicht mit dem Modeln angefangen, um nur die schönen Jobs zu machen. Hier sehe sie die Chance, wirklich etwas zu bewegen. Mal davon abgesehen, dass das Wort „bewegen“ langsam auf den Index gehört – warum engagiert ihr euch nicht woanders? Etwa bei Marken, die schon früher nicht ganz so abwegig waren. Rihanna’s Savage x Fenty oder Chromat? Nur weil Victoria’s Secret weltweit immer noch den größten Marktanteil hat, muss man noch längst keinen (feministischen) Rettungsschirm spannen wie bei Banken, die ebenfalls keine Engel sind, aber ein paar unschuldige Sparbücher in ihrer Gewalt haben. Würde VS pleite gehen, säßen höchstens ein paar Schülerinnen tangamäßig auf dem Trockenen. Letztlich geht es auch hier wieder um das ewige Problem in der Waren-, vor allem in der Modewelt: Keine eingeführte Marke darf sterben. Ständig muss das Image angepasst oder neu erfunden werden, um mit allen Mitteln den bereits erreichten Bekanntheitsgrad zu bewahren. Zwischenzeitlich wurde die Victoria’s Secret Show in mehr als hundert Länder übertragen. Es war der Superbowl der Modewelt. Und egal wie toxisch er im Kern war, diesen Wert will keiner einfach so aufgeben, nicht mal das neue Management, das ansonsten bestimmt schwer in Ordnung ist. Aber statt einer öffentlichen Resozialisierung vom PR-Reißbrett wäre die viel bessere Disziplinierungsmaßnahme für Unternehmen die folgende: Einfach mal in der Hölle schmoren lassen. Nicht mitmachen bei der hübschen, viel zu späten Umverpackung. Keinen Spitzen-BH, Push-up oder, ganz neu, Sport-Bustier oder Übergrößen-Panty im luftiger gestalteten Laden kaufen, sondern die Marke langsam und qualvoll vor die Hunde gehen lassen. Den Marketing-Leuten nicht alles durchgehen lassen, sondern ihnen zeigen, dass man Woke-sein nicht nachträglich dazukaufen kann. Kunden haben diese Macht ja. Sie können woanders kaufen. Sie müssen einer Marke keine Absolution erteilen. Wofür auch? Noch ist der Laden, soweit man weiß, keine NGO. Sollte diese Kampagne scheitern, wäre das eine Sensation. Naheliegender ist, dass bald Horden von Frauen begeistert die Läuterung der Victoria-jetzt-ohne-Geheimnise mittragen. Everybody loves a comeback. Und das „VS Collective“ passt nun mal perfekt in unsere mit allen wachen Wassern gewaschene Zeit. So wie die rückblickend ach-so-peinliche Flügel-Nummer leider auch ziemlich gut in die späten Neunziger- und Nullerjahre passten. Wer frei von Trash ist, werfe den ersten Swarovski-Stein.

Title image: Victoria’s Secret new campaign look.