Vor dem Wannsee sind alle gleich

„Für die einen Anarchie, für die anderen Freiheit“

Ausgelassene Schreie aus dem Wasser, dumpfe Schläge von den Volleyball- und Basketballfeldern und das Klackern der Boote am Steg. Im Sommer berühren die Blätter der Trauerweiden fast die Wasseroberfläche. Der Wannsee ist ein Sehnsuchtsort und einer, der eine Revolution ausrief, die keine hätte sein sollen: eine Baderevolution. Die Baderevolution war ein Zufall, ihre gesellschaftlichen Auswirkungen damals nicht gewollt, die Freiheit, die sie mit sich brachte, unumkehrbar. Der Wannsee hatte bereits seinen Schabowski-Moment, 82 Jahre, bevor dieser Name einen historischen Sinn ergab. Die eigentliche Eröffnung des Strandbads Wannsee war völlig unspektakulär, sagt der Sachbuchautor Matthias Oloew, der viele Jahre zum Badestrand Wannsee recherchiert hat. Es war der 8. Mai 1907, der Wannsee lag zwar vor den Toren Berlins, gehörte aber damals noch zum Landkreis Teltow in Brandenburg. Es gab kein Fest, keine großen Ansprachen – stattdessen wurden einfach die Schilder „Baden verboten“ durch „Badestelle“ ersetzt – das war alles.

Eine Baderevolution

Wer hinter diesem unscheinbaren Verwaltungsakt steckte, der sich zu einer ungewollten Revolution entpuppte, war Ernst von Stubenrauch. Der Landrat von Teltow hatte bei der königlichen Regierung in Potsdam unter Absprache mit dem Oberförster im Grunewald durchgesetzt, dass man legal im Wannsee baden gehen darf. Baden in der Öffentlichkeit, nackte Haut – all das war verboten, auch vor dem Gesetz. Es galt als „unschicklich“, dass bekleidete Menschen am Wegesrand oder Ufer unbekleidete oder wenig bekleidete Menschen im Wasser sehen können. „Wer dabei erwischt wurde, wurde von der Polizei aufgeschrieben, die machten auch vor Kindern nicht halt“, erklärt Oloew. Damals gab es zwar bereits seit vielen Jahren Flussbäder in Berlin. Im Unterschied zu einem Freibad waren die Flussbäder blickdichte Kästen, die auf der Havel oder Spree schwammen, in die die Leute bekleidet hineingingen, geschützt vor den Blicken anderer in Badebekleidung schwammen und voll bekleidet wieder herauskamen. 1907 passierte dann das, womit niemand gerechnet hatte: Legales freies Baden ohne Eintritt war von da an im Wannsee erlaubt; Männer und Frauen gemischt und gleichberechtigt, ohne Regeln. Auch ohne große Eröffnungszeremonie verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. „Das war damals nahezu ein Ding der Undenkbarkeit“, sagt Oloew „für einige war es sensationell, für andere war es ein Verfall der Sitten.“

Sittenverfall?

Landrat Ernst von Stubenrauch und der Förster des Grunewalds, die mit ihrer Idee vom freien Baden im Wannsee für diesen Sittenverfall gesorgt hatten, kamen gar nicht erst auf die Idee, dass natürlich auch Frauen Baden gehen wollten und haben daher keinerlei Regeln aufgestellt. Die Idee war: Ein paar harmlosen Naturburschen die Gelegenheit geben, ins Wasser zu springen. Was sie völlig unterschätzt hatten, war, dass eine Volksbewegung einsetzen würde: Gleich im ersten Sommer machten sich Tausende aus der Innenstadt von Berlin auf zum See. Und die Szenen, die sich dort abspielten, so beschreibt es Oloew, kann man sich heute kaum vorstellen: Tausende Menschen im Wasser, Tausende am Strand und auch Tausende oben am Ufer, die dieses Spektakel beobachtet haben. „Zum ersten Mal in Preußen und auch in Deutschland insgesamt war das freie Baden in der Nähe einer Großstadt in einem Binnensee mit beiden Geschlechtern gleichberechtigt erlaubt.“ Und dass in einer Gesellschaft, in der Frauen in der Öffentlichkeit nahezu unmündig waren und kein Wahlrecht hatten. Am Wannsee, so Oloew, gab es kein Ansehen der Person, kein Ansehen der Klasse: Vor dem Wannsee waren alle gleich.

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Der Wannsee als Gleichmacher

Das habe sich bis heute nicht verändert, sagt Oloew: „Für jeden und jede ist es erschwinglich, das Bad zu besuchen. Mit dem Wannsee ist das Freibad zum Inbegriff von Freiheit geworden: Klassenschranken wurden überwunden – Sport, Entspannung und Gesundheit für alle und jeden.“ In den Augen der Sittenwächter kam es 1907 zu schweren Verstößen im Strandbad. Trotzdem hat die königliche Regierung ihre Genehmigung nie mehr zurückgenommen, das Strandbad Wannsee ist mittlerweile seit über 110 Jahren geöffnet. Der letzte Versuch, diese Freiheit einzuschränken, war der Zwickelerlass von 1932. Die preußische Regierung, damals eine demokratische, hat in diesem Jahr eine Badeordnung von Ostpreußen bis zur Kölner Bucht erlassen: In die Badekleidung sollten Einlagen gelegt werden, damit die primären Geschlechtsorgane durch die nasse Badebekleidung nicht sichtbar sind. Der Versuch, die Badefreiheit mit Kleidervorschriften wieder einzuschränken, wurde von den Badegästen einfach ignoriert. Man badete einfach weiter. Diesen Ort der Revolution haben wir für die aktuelle Achtung Ausgabe genutzt, um eine eigene zu starten: Die einzelnen Bilder der Ausgabe sind nicht länger gestellte Momentaufnahmen, sondern mit der laufenden Kamera eingefangene echte Momente. Bewegte Bilder werden zu einem Magazin, die Mode als Script, die Models als Darsteller:innen – frei und ohne Kleidervorschrift.

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Photos: Konrad Waldmann

Styling: Markus Ebner

Models: Eliza Kallmann / Munich Models

Johanna Schapfeld / Iconic

Lilith Stangenberg

Lola Kallmann / Modelwerk

Produzent und Konzeption: Marcus Kurz / Nowadays

 Location: Strandbad Wannsee