Ostblick: Anastasia Khoroshilova

„Moskau ist wie ein Lieblingskleid“

Anastasia Khoroshilova verließ mit 15 Jahren Moskau und verbrachte ihre Jugend auf einem Internat in Norddeutschland. Über 2.000 Kilometer entfernt von ihrer Heimat – eine neue Sprache, die Fremde, das Anderssein. Es könnte diese Isolation gewesen sein, die Khoroshilovas Blick auf andere, auf Minderheiten und ihre Geschichten schärfte. Es könnte der Moment gewesen sein, in dem Khoroshilova die Welt der Einsamkeit, der Einsamen betrat. Anastasia Khoroshilova ist Porträtfotografin und lebt und arbeitet in Berlin und Moskau. Immer wieder blicken einem von ihren Bildern Augen entgegen, die Geschichten von Entführung und Gewalt, von Stärke und Heimat erzählen. Es sind Menschen, Gruppen und Gemeinschaften, die Khoroshilova über lange Zeit beobachtet und fotografiert. 

Ihr Handwerk hat Anastasia Khoroshilova im Studium der Fotografie an der Universität Duisburg-Essen bei Prof. Joerg Sasse gelernt. Mit ihrer Kamera hält sie fest, was es in ein paar Jahren vielleicht nicht mehr geben könnte, Stadtviertel in Berlin und Moskau, wo Geschäfte schließen, Neues entsteht, Menschen sterben und neue Bewohner*innen dazukommen. Was die Menschen auf den Bildern von Khoroshilova tragen, in welchem Umfeld sie sie fotografiert, entscheiden sie selbst. Ihre Werke wurden unter anderem im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, im Kunsthaus Baselland, auf der Moskauer Biennale für Junge Kunst und der Venedig-Biennale ausgestellt. Jedes einzelne Porträt macht den Anschein, als würde Khoroshilova sehen können, für was der Rest von uns in der virtuellen Vernetzungshysterie, in unseren Bitten gehört zu werden, zu beschäftigt ist, um es jemals zu sehen. Dafür sind Khoroshilovas Porträts da, für die Sichtbarkeit der leicht zu Übersehnenden, der Einsamkeit.

Carmen Maiwald: Seit der ersten Ausgabe von Achtung haben wir den Blick nach Osten gerichtet. Wir finden, das sollte öfter gemacht werden. Was kann der Westen vom Osten lernen?

Anastasia Khoroshilova: Ich pendle seit vielen Jahren zwischen Ost- und West, in den letzten Jahren zwischen Berlin und Moskau, für mich ergänzen beide einander sehr schön durch diese wunderbaren Gegensätze wie: „spontan – geplant“, „chaotisch – geordnet“, „emotional – rational“.

CM: Was ist der größte Unterschied, den du feststellen kannst, wenn du von Ost- nach Westeuropa reist?

AK: Spontan würde ich sagen, dass das Lebenstempo der Umgebung(en) sich verlangsamt und ordnet.

CM: Was ist das erste Bild, das dir in den Sinn kommt, wenn du an dein Heimatland denkst?

AK: Eine Datsche – ein Ort mit all der Symbolik, die jeder für sich unterschiedlich interpretiert.

CM: Welche Möglichkeiten bietet dir dein Heimatland in der Fotografie?

AK: Ich denke, dass es nicht von einem Ort abhängt, sondern von deiner Wahrnehmung, Reflexion und Weltanschauung. Aber sicherlich wurden mein Weltbild und meine Persönlichkeit durch das Aufwachsen in der Sowjetunion und später in Russland vor allem durch die geschichtlichen Ereignisse und Veränderungen in den letzten Jahrzehnten dort geprägt.

CM: Wenn du nicht Fotografin geworden wärst, was würdest du jetzt sein?

AK: Ich wäre Übersetzerin oder Schriftstellerin.

CM: Welcher Fotograf oder Fotografin aus deinem Heimatland inspiriert dich am meisten?

AK: Es sind viele, und um nur einige zu nennen: Vom russisch-schottischen Fotografen William Carrick, wenn wir an die Anfänge der Fotografiegeschichte zurückblicken, Vladimir Kupriyanov, ein Künstler, der mit fotografischem Medium arbeitete oder Igor Samolet – ein junger Fotograf aus Moskau.

CM: Schwarz-Weiß oder Farbe?

AK: Ich mag beides. Es kommt darauf an, was in dem Moment gut zu meiner Idee passt.

CM: Dein Lieblingsort in deiner Heimatstadt?

AK: Ich bin im Zentrum Moskaus aufgewachsen und liebe es immer noch, durch die kleinen Seitenstraßen, Innenhöfe und Bögen um die Arbat Straße herumzuspazieren.

CM: Welche Poster hingen früher an den Wänden deines Jugendzimmers?

AK: Ich hatte keine Poster an den Wänden. In meinem Zimmer hingen die Bilder der Freunde unserer Familie, die Künstler*innen waren. 

CM: Wenn deine Stadt ein Kleidungsstück wäre, welches wäre es?

AK: Ich weiß nicht, welches Kleidungsstück das wäre. Aber sicherlich wäre es ein Lieblingsstück oder eines, das Glück bringt, das man immer gerne anzieht und nie aus dem Kleiderschrank aussortiert.

CM: Zu Sowjetzeiten mussten Bilder durch den „Eisernen Vorhang“ von Ost nach West geschmuggelt werden. Auch wenn dieser Vorhang längst gefallen ist, wie schwierig ist es für junge Kreative, diese Grenzen zu überwinden und internationale Aufmerksamkeit zu bekommen?

AK: Im Zeitalter des Internets gibt es zum Glück viele Möglichkeiten und Chancen, Sichtbarkeit für die eigene Arbeit zu schaffen.

CM: Willst du mit deiner Arbeit als Fotografin etwas bewegen? Wenn ja, was?

AK: Ich möchte Geschichten erzählen. Geschichten, die nicht an einen Ort gebunden sind, die von realen Menschen, Begebenheiten und Schicksalen handeln – von Ein Teil der Welt. So hieß auch meine letzte Ausstellung in Deutschland. Meine Arbeiten basieren auf dem Dialog und dem gegenseitigen Respekt schon vor dem Moment des Fotografierens und sollen den Dialog anderer fortsetzten. Und dann entscheidet der Betrachter selbst, was passieren, erreicht, verändert werden kann.

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