Miuccia, wir müssen reden

Reklame Nr.1, unsere neue Modewerbung Kolumne

Prada digital advertising campaign 2021

„Ist neu noch relevant?“ „Sollten wir schneller oder langsamer leben?“ „Sind der Identität Grenzen gesetzt?“ Die ganz großen Fragen unserer Zeit – und die stellt nicht etwa der philosophische Stammtisch auf Clubhouse, sondern das Haus Prada in seiner neuen Werbekampagne „Dialogues“ für SS 2021.

Wir erinnern uns: Bislang bestand das Verhältnis zwischen Luxusmarken und Publikum vor allem aus Aktion (Kollektionsentwurf, möglichst hübsch) und Reaktion (Kaufakt, möglichst viel). Die dazugehörigen Werbemotive waren in der Regel eine strikte, unwiderstehliche, aber nonverbale Aufforderung, diese oder jene Tasche/Bluse/Hose zu kaufen. Verkaufsfördernde Slogans wie in den meisten anderen Branchen brauchte es gar nicht, geredet wurde in der Mode ja traditionell nicht viel, man verstand sich auch so.

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“Kann etwas je neu sein?”

Aber dann fing das „System“ allmählich an zu bröckeln.

Plötzlich gaben auf Social Media alle möglichen Leute ungefragt ihren Senf zur Modewelt dazu, gekauft wurde dafür nicht mehr automatisch alles, ging ja auch gar nicht bei den Unmengen von Angeboten. Zu allem Überfluss kam noch diese Pandemie oben drauf. Jetzt müssen die Marken schauen, wie sie aus dieser Krise wieder herauskommen, und wie jeder gute Shrink seinen Schäfchen sagen würde: Reden hilft. Öffnet euch. Geht aufeinander zu. Voilà: Zunächst taten sich also Miuccia Prada und Raf Simons zusammen, die Frau, die nie Kooperationen machen wollte, der Mann, der schon lange davon redete, wie toll es wäre, mal bei Marc oder Miuccia eine Saison vorbeizuschauen. Ihre erste im September gezeigte Frauen-Kollektion nannten sie „Dialogues“ und entsprechend heißt also auch die dazugehörige erste Kampagne so.

Online kann man auf fast zwei Dutzend Fragen antworten, ausgewählte Beiträge werden – nein, nicht mit einer Prada-Tasche prämiert, sondern: Teil der Kampagne. Schließlich sollen hier Denkanstöße gegeben werden, ein Dialog, ein gegenseitiger Austausch entstehen, statt der immer nur einseitigen Anstiftung zum Konsum. Klar, Models mit der Kollektion sind natürlich auch noch groß im Bild, die Rollis, Nylon-Wraps, Logo-Ohrringe.

Ausgedacht hat sich die Kampagne, wie schon die Sotheby’s-Aktion und die Anzeigen als Blumenpapier in den Saisons zuvor, Ferdinando Verderi, der bekanntlich auch der Creative Director der italienischen Vogue ist. Die Idee ist so stimmig, smart wie zeitgemäß. Schon lange predigen Unternehmensberatungen, Firmen müssten heutzutage wie Menschen auftreten, um mit ihren Kunden echte Beziehungen aufzubauen. Interaktion, Miteinander, Augenhöhe. Klingt uralt, ist in der Mode aber brandneu. 2014 kam eine Studie der Sauder School of Business noch zu dem Schluss, je hochnäsiger das Verkaufspersonal, desto größer der Umsatz in den Boutiquen. Jede Wette – und zumindest die zuvorkommende Prada-Armada in der Via Montenapoleone im September bestätigt die These – dass die Ansage aus den Firmenzentralen heute eine andere ist.

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“Sind der Identität Grenzen gesetzt?”

Einen Insider-Subtext hat die Kampagne übrigens auch noch

Statt Rafs Lieblingsfotografen Willy Vanderperre hat die Kampagne wer fotografiert? Offensichtlich niemand, sondern hunderte von vollautomatischen Kameras, die die Models aus jedem erdenklichen Winkel aufnahmen. Vielleicht schon das neue Regime von Lorenzo Bertelli, der jetzt die Kommunikation der Marke übernommen hat und Verderi an Bord geholt hat und David James aus London abgesetzt. Der hatte davor das Sagen, sehr lange.

Aber ganz ehrlich: Wollen wir wirklich mit Miuccia und Raf über die Welt philosophieren? Oben im Restaurant der Fondazione mit Blick über Mailand, einem Negroni vor sich und der alten Gordon’s-Gin-Werbung dort im Rücken, natürlich sofort. Gern auch per Whatsapp (oder Signal halt). Aber so umständlich und zeitversetzt? Der Prada-Fan zermatert sich das Hirn, formuliert eine möglichst hochtrabende Antwort, die den intellektuellen Ansprüchen von Miuccia genügt – und dann muss er Wochen warten, bis vielleicht, hoffentlich sein Beitrag als Teil dieses „Ongoing Dialogue“ erscheint?

Und was, wenn selbst der Prada-Fan nicht die ganz großen Fragen klären kann (die Zuschriften von den Givenchy- oder Philipp Plein-Kunden mag man sich gar nicht vorstellen)? Wahrscheinlich beantworten Dinge wie „Die Sinnhaftigkeit von Funktion“ oder „Was noch wirklich neu ist“ immer noch am besten Miuccia und Raf selbst mit ihren Entwürfen. Lediglich die Frage „Sind Sie selbstbewusst genug, um Ihre Widersprüche zu akzeptieren?“, werden viele ganz einfach beantworten können. Na klar! Und jetzt her mit diesen Logo-Ohrringen.