Made in Germany #47

Maximilian Bittner

Endlich die Chanel-Bag! Gerade in unsicheren Zeiten scheinen die Menschen wieder Gefallen an Altbewährtem zu finden. So wird der Gang zum Flohmarkt zum sonntäglichen Ritual, die Vintage-Läden der Stadt nach Schätzen durchforstet. Was im Kleinen funktioniert, boomt bekanntlich noch besser im Großen. Seit 2009 prägt Vestiaire Collective den Resale-Begriff für Luxusmode. Der Münchner Maximilian Bittner hat schon für die Samwer-Brüder in Südostasien Amazon kopiert. Nun führt er seit 2019 Europas größte Verkaufsplattform für Second-Hand Luxusmode. Ein Besuch in Paris bei dem Deutschen, der Vestiaire zu einem globalen Player machen will.

Maximilian Bittner ist kein Topseller mehr. Ausgerechnet. Den begehrten Status hat er schon vor einem guten halben Jahr verloren. Er müsste dringend mal wieder etwas verkaufen. Aber vor seinem Umzug von Paris in die USA vergangenes Jahr war schlicht keine Zeit, danach erst recht nicht. Der CEO von Vestiaire Collective ist jetzt also wieder eine ganz gewöhnliche Nummer in seiner Community. Vorzugsbehandlungen gibt es hier nicht mal für den Chef. Was der wiederum absolut richtig findet. Viel mehr trifft ihn, dass er neulich nicht auf der großen Vestiaire-Party während der Berlinale war, zu der unter anderem Heike Makatsch, sein Jugend-Crush, kam. Nicht einmal eingeladen sei er gewesen, beschwert er sich im Scherz. „Ständig sagen mir irgendwelche Leute, ‚Hey Max, dein Leben muss ja jetzt unglaublich glamourös sein in der Modewelt!‘ Aber was mache ich? Ich gucke auf Excel-Tabellen.“

Allerdings ist Vestiaire – fast niemand sagt noch den kompletten Namen – wahrscheinlich nicht zuletzt deswegen so erfolgreich die letzten Jahre. 2023 wuchs das Unternehmen erneut um 25 Prozent, irgendwann in 2024 soll das Geschäft mit Vintage-Mode endlich profitabel sein. Bittner arbeitete früher für die Samwer-Brüder von Zalando und zog in Südostasien den Amazon-Klon Lazada hoch. Ein irrer Erfolg. Als sie an Alibaba verkauften, arbeiteten 15.000 Leute für ihn. Vestiaire mit seinen gerade mal 200 Angestellten war zu seiner Anfangszeit 2019 ein Zwerg dagegen. „Der Headhunter hatte mich eigentlich wegen etwas ganz anderem angerufen und wollte mir den Job gar nicht anbieten“, erzählt der 45-Jährige. Aber er verliebte sich sofort in die „Riesen-Opportunity“, wie er es nennt. Eine Unternehmensidee, die nicht nur weniger „Schlechtes“ verursacht, sondern sogar etwas richtig Gutes tut. Nachhaltiges Shoppen! Und das noch mit riesigem Wachstumspotenzial plus einer treuen Community, die es im illoyalen, preisgetriebenen E-Commerce sonst kaum gibt. Seine Entscheidung habe er seitdem nicht eine Sekunde bereut, sagt Bittner.

Dabei hatte er mit Mode eigentlich nie viel am Hut. Er sei „eher schlampig“ in Jeans, T-Shirt und Sneakern herumgelaufen. In Singapur, wo er zu Lazada-Zeiten wohnte, trug er fast nur Shorts. „Mein Vater hat laut gelacht, als ich ihm erzählte, dass ich jetzt nach Paris ziehe und ins Fashion-Business einsteige“, erzählt Bittner, der gerade in einem blauen Zip-up-Hoodie vor der Computerkamera sitzt. Marke? Brunello Cucinelli. Das Label habe er allerdings schon vor dem Quiet-Luxury-Trend getragen, schiebt er schnell hinterher. Auch seine Levi’s hat er mittlerweile gegen Saint-Laurent-Jeans getauscht. Man kommt zwangsläufig auf den Geschmack in diesem Geschäft. „Außerdem haben Saint-Laurent-Jeans einen deutlich höheren Wiederverkaufswert“, sagt Bittner. Darauf achte man bei „First Hand“-Käufen fortan sofort, sobald man einmal etwas auf einer Vintage-Plattform verkauft habe.

Jacket EMANUEL UNGARO VIA VESTIAIRE COLLECTIVE; Shoes LOUIS VUITTON VIA VESTIAIRE COLLECTIVE. Photographed by Jana Gerberding exclusively for Achtung Nr. 46

Dress HERVÉ LÉGER VIA VESTIAIRE COLLECTIVE; Shoes AEYDE. Photographed by Jana Gerberding exclusively for Achtung Nr. 46

Aufgewachsen in München hatte Max früh Kontakt mit Second-Hand-Mode. “Die Sachen meiner älteren Schwester konnte ich schlecht auftragen. Aber wir gingen als Familie oft auf diesen Flohmarkt in der Au, um Spielzeug oder Möbel zu kaufen.” Keiner hätte damals für möglich gehalten, dass es mal riesige Flohmärkte im Internet geben würde. Erst recht nicht, dass der Junge von damals mal einen der größten davon für Mode führen würde. “Gebrauchte Skier!”, fällt es ihm jetzt ein, “das war wahrscheinlich meine allererste Second-Hand-Erfahrung.” Er sei von klein auf ein Bergkind gewesen. Noch immer kommt er, egal wo er gerade wohnt, jedes Weihnachten nach Hause und geht mit alten Freunden zum Skifahren in die Alpen. “Die wahrscheinlich größte Konstante in meinem Leben”, meint Bittner. Eine andere, der FC Bayern, hat sich mittlerweile erledigt. “Unerträglich dieser Verein. Diese Saison muss bitte endlich jemand anderes die Liga gewinnen, egal wer.”

In Wirtschaftsartikeln über ihn steht, dass er mit 16 von München aufs Internat in Schottland ging. “Wurde gegangen müsste es korrekt heißen”, ergänzt er. “Meine Eltern und Lehrer würden mein Verhalten und meine schulischen Leistungen damals wahrscheinlich mit ‘blieb unter seinen Möglichkeiten’ zusammenfassen.” Er habe ein Problem mit Autoritäten. Dazu sei er noch faul. Eigentlich ideale Chefqualitäten, sagt er grinsend. Aber Schottland habe ihm sehr gutgetan, dort spielte der 1,92-Meter-Mann übrigens tatsächlich Rugby. Nach dem Abschluss studierte Bittner in London. Sein erstes Praktikum war mitten in der Dotcom-Bubble bei Autoscout24. Aber als er Ende 2001 mit dem Studium fertig wurde, war die Blase gerade geplatzt, statt in den E-Commerce stieg er erst einmal klassisch bei McKinsey und im Investmentbanking ein. “Erfahrungen, die mir viel gebracht haben, aber nie wirklich Spaß machten”, erinnert sich Bittner.

Den Spaß hat er dafür jetzt. Es sind ja eher bewegte Zeiten im Onlinegeschäft mit Mode. Farfetch und Matchesfashion straucheln, Net-A-Porter macht weiter Verluste. Sämtliche Boutiquen hätten ein “Supply”-Problem, weil ihnen die großen Luxusmarken immer weniger ihrer Top-Produkte überlassen wollen. Vestiaire hingegen hat keine Nachschubprobleme, eher im Gegenteil. Die Schränke der Leute sind voll, sie müssen nur “aktiviert” werden. Vor allem gibt es bei Second Hand keine Retouren, die Achillesverse der anderen. “Das war von Anfang an eine bewusste Entscheidung von uns”, sagt Bittner. “Man darf die Leute nicht zu sehr verwöhnen, wenn sich die Kosten dafür nicht rechnen. Das Gleiche gilt für die immer kürzeren Lieferzeiten. Meiner Meinung nach ist das Einzige, was man in zehn Minuten wirklich braucht, ein Krankenwagen. Sonst nichts.”

Lange war Frankreich der wichtigste Markt von Vestiaire, schließlich wurde das Unternehmen dort 2009 gegründet. Aber mittlerweile sind die USA der größte und der am schnellsten wachsende Markt. “Der Wohlstand hat sich dort einfach gigantisch entwickelt die letzten Jahre”, sagt Bittner. Deshalb ist nun sogar der Chef persönlich mit Frau und drei Kindern nach New York gezogen, um die Priorität ganz deutlich zu machen, am Hauptsitz in Paris ist er nur noch jede dritte Woche. Auch die größte Konkurrenz sitzt in den USA. The RealReal ist mit einem Gesamtumsatz von 549 Millionen Dollar in 2023 aktuell etwa dreimal so groß wie Vestiaire. “Noch”, sagt Bittner. “Das ist ganz klar unser Ziel.”

Dress XULY BËT VIA VESTIAIRE COLLECTIVE. Photographed by Jana Gerberding exclusively for Achtung Nr. 46

Und sonst? Wo geht die Reise hin im schnellen E-Commerce? Wird irgendwann jeder Vintage shoppen? Zumindest werden dadurch laut mehreren Studien mit BCG tatsächlich viele “First-Hand-Käufe” verhindert, sagt Bittner. “Bei Vestiaire beträgt die Ersatzrate 82 Prozent. Bei Vinted hingegen nur 39 Prozent.” Niemand könne von heute auf morgen statt H&M nur noch Hermès kaufen. Aber statt First-Hand-Zara mal auf Second-Hand-Sézane umsteigen, statt First-Hand-Sézane Second-Hand-Gucci, statt First-Hand-Gucci Second-Hand-Chanel – so sehe die Qualitätspyramide der Zukunft aus. Außerdem arbeiteten sie natürlich daran, den “Social Commerce” noch mehr auf die Community auszurichten, das Kaufen und Verkaufen noch günstiger und einfacher zu gestalten.

Was das Mitglied Maximilian Bittner von seiner Community zuletzt ergattert hat? “Ein paar Basketballsneaker von Saint Laurent”, sagt er hochzufrieden. Das gleiche Modell hatte er vor Jahren im Laden gekauft und so viel getragen, dass sie fast auseinanderfallen. Im regulären Sortiment ist das Modell längst nicht mehr vorhanden, aber plötzlich bekam er den üblichen “alert” von Vestiaire auf sein Handy. “Gute Nachrichten! Wir haben einen Artikel gefunden, der Ihrer Suche entspricht.” Da hat er sofort zugeschlagen. Ganz regulär und ohne Vorzugsbehandlung.

Fotografiert am 28. Februar 2024 in Paris exklusiv für ACHTUNG Nr. 47