„Ich bin nicht Moishe“

Jeff Wilbusch über reizvolle Rollen und Empathie für „Psychopathen“

Es ist die große Unsicherheit unserer Zeit: Wie nah kann ich Menschen kommen, wann gilt es sich wieder zurückzuziehen? Wir haben mit dem Schauspieler Jeff Wilbusch über Nähe und Distanz gesprochen – zu den eigenen Rollen, der Öffentlichkeit, zu Verschwörungserzählern und zur Religion.

Es is eine Zeit, in der Rücksicht und Distanz die neue Nähe ist.

Abwägen zu müssen, zwischen Nähe und Distanz, prägt das Leben des Schauspielers Jeff Wilbusch schon wesentlich länger als die Pandemie unsere Gesellschaft: Wie viel von mir gebe ich in eine Rolle, wie viel von mir teile ich mit dem Publikum und anschließend auch mit der Presse – wie viele Nähe lasse ich zu?

Jeff Wilbusch ist 1987 in Haifa geboren, studiert erst Wirtschaftswissenschaften in den Niederlanden und dann Schauspiel an der Otto Falckenberg Schule in München. Er spielt für die Münchner Kammerspiele, im Schauspielhaus Hamburg, am Residenztheater in München und in deutschen Fernsehproduktionen. Berühmt wird er durch Rollen wie in der Fernsehserie Bad Banks und als Moishe in der Netflix-Serie Unorthodox. Die auf dem autobiographischen Roman von Deborah Feldman beruht: Eine junge Frau aus einer ultraorthodoxen Gemeinde im New Yorker Stadtteil Williamsburg, die aus den Zwängen der Gemeinde nach Berlin flieht. Wilbusch spielt den Moishe, der helfen soll, in Berlin die entflohene Frau zu finden und sie zurückzubringen. Moishe ist ein Spieler, ein Getriebener und Verlorener. Er prallt auf die Welt der ultraorthodoxen Gemeinde, zerbricht.

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Was ist reizvoll daran sich für eine Rolle in so einen Menschen zu verwandeln – und was verstörend? Wir haben mit Wilbusch über Nähe und Distanz gesprochen – zu den eigenen Rollen, der Öffentlichkeit, zu Verschwörungserzählern und zur Religion. 

Carmen Maiwald: Du hast mit deiner Rolle als Moishe in Unorthodox gleichzeitig eine Tür zu einer vielversprechenden Schauspielkarriere, aber auch eine Tür zu deiner eigenen Vergangenheit geöffnet – wie fühlt sich das an? 

Jeff Wilbusch: Es war für mich sehr emotional. Ich hatte schon viele Herausforderungen im Theater, zum Beispiel mit der Rolle eines Menschen mit einer geistigen Behinderung. Die Rolle von Moishe ist besonders, weil ich lange, lange her auch mal in so einer Gemeinde gelebt habe. Es ist natürlich interessant, wie das zustande gekommen ist, dass man einen deutschen Schauspieler einlädt zum Casting und dann rausfindet – im Nachhinein – dass er eigentlich sehr viel mehr, nicht mit der Rolle selbst, aber mit der Geschichte zutun hat. Das macht es nicht einfach, ich bin nicht Moishe, ich bin alles andere als Moishe. Aber in dem Prozess versuche ich Moishe in mir selber zu finden. Ich bin Schauspieler und der Grund, wieso ich Schauspieler bin, ist, dass man alles andere sein kann, als man selber.

CM: Wieso willst du jemand anderes sein? 

JW: Das macht deine Empathie viel größer. Denn wenn du andere Menschen spielst, findest du dich am Ende der Reise auch selber, wie ein Zitat von Max Reinhardt sagt: ,Der Schauspieler ist von der unbändigen Lust getrieben, sich unaufhörlich in andere Menschen zu verwandeln, um in den anderen am Ende sich selbst zu entdecken.‘ Und das ist das Schöne daran, du spielst jemanden ganz, ganz weit weg von dir und am Ende der Reise denkst du dir: Ich war mal so oder es gibt ein Teil von mir, der so ist. 

CM: Bei welchen Rollen ging es dir so? 

JW: Zum Beispiel bei dem Menschen mit der geistigen Behinderung am Theater. Der wird gemobbt und als Dorftrottel bezeichnet. Da habe ich gemerkt, dass ich vergessen habe, dass ich in der Schule, so von 13 bis 15, der uncoolste Junge überhaupt war. Ich hatte keine Freunde, ich habe nicht verstanden, dass Witze auf meine Kosten gemacht wurden. Diese Zeit habe ich total verdrängt oder vergessen. Aber am Ende der Reise, findest du oft beides: Die Rolle ist ganz anders als ich, aber auch ein Teil von mir. 

CM: Wie war das in der Rolle als Moishe, ist es nicht schwer ein Teil von sich in jemandem zu erkennen, der einen eigentlich anwidert? 

JW: Ich glaube alle Rollen, die ich gespielt habe bleiben lange bei mir. Aber mit Moishe habe ich eine Rolle gespielt, wo ich gewalttätig bin und das hat mich sehr getriggert. Ich war nie gewalttätig und ich will es auch nicht sein – das ist kein Teil von mir. Trotzdem erkennt man Wut, die auch in einem selbst ist. Und deswegen muss man sich bei jeder Rolle gut überlegen: Will man das auf seiner Seele haben? Moishe war auf jeden Fall auch ein Mindfuck. 

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CM: Wie schaffst du eine Distanz zu diesen Rollen? 

JW: Bei dem Ende des Drehs von Unorthodox waren wir in New York und danach bin ich sofort zu einem Barber-Shop gegangen. Ich wurde zum ersten Mal in meinem Leben so richtig glattrasiert. Es war ein wichtiger Prozess. 

CM: Wenn du immer wieder zu dem Zusammenhang von Moishe und deiner Person gefragt wirst, wie schwer fällt es dir die Distanz zwischen dir und dieser Rolle selber noch zu erkennen? 

JW: Bei der Rolle des Moishes ist es wirklich so, dass manche meinten: Ich hatte Angst dich zu interviewen, nachdem ich dich als Moishe gesehen habe. Menschen brauchen Zeit um zu verstehen, dass man nicht diese Person ist. 

CM: Das spricht ja aber dafür, dass du die Rolle authentisch gespielt hast.

JW: Aber das ist die Kunst von Schauspiel: Ich muss nicht jemanden ermordet haben um einen Mörder spielen zu können. Ich muss aber trotzdem bei mir die Punkte finden, was es für mich bedeutet jemanden zu ermorden. Ich merke, dass das meine Seele breiter macht. Nicht das ich jetzt irgendwie anfange Psychopathen zu lieben, aber ich merke: Vielen Leuten ist Ungerechtigkeit wiederfahren, zum Beispiel in der Kindheit. Das rechtfertigt nicht, was sie machen. Trotzdem lerne ich: Ich muss meinen Kindern beibringen, dass sie nicht mobben sollen. Oder ich muss meinen Kindern beibringen, dass obwohl sie gemobbt werden, die Welt trotzdem gut ist. 

CM: Was reizt dich mehr zu spielen: den Guten oder den Bösen? 

JW: Es geht gar nicht um Gut und Böse. Es ist komplexer. In der Schauspielschule musste ich oft Rollen spielen, die kleiner waren als ich: jünger, dümmer, unerfahrener, einfacher. Ich will Rollen spielen, die größer sind als ich: schlechter, böser, sympathischer, krasser. Das ist herausfordernder und auch schwerer: es sind größere Dämonen, größere Konflikte, größere Entscheidungen, als in meinem eigenen Leben.

CM: Aktuell drehst du in Prag und spielst eine Rolle in einer Filmproduktion von Steven Spielberg. Es geht um den Osloer Friedensprozess und damit um die Verhandlungen im Nahostkonflikt. Was ist herausfordernd an dieser Rolle? 

JW: Es macht mich traurig, dass das Thema des Films immer noch so relevant und noch nicht abgeschlossen ist. Es ist ein schmerzhaftes Thema.

CM: Wie sieht es mit der Nähe und Distanz in deinem Privatleben aus, bist du jemand der gern in Gesellschaft ist und wie geht es dir mit der Distanz durch die Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie? 

JW: Ich bin kein Einzelgänger, ich brauche Menschen um mich. Ich glaube das ist so ein bisschen das Ding unserer Zeit, die Situation spricht genau das an, was wir eigentlich brauchen aber nicht mehr haben: Gemeinschaft und Nähe. Man sieht es auch daran, wie sehr Menschen in dieser Zeit auf einmal wieder an Verschwörungserzählungen glauben wollen. Ich habe das irgendwie nicht in mir, so einen Glauben an Gott oder so.

CM: Du bist nicht gläubig? 

JW: Nein, ich bin nicht gläubig. 

CM: Hast du nie wirklich geglaubt? 

JW: Als Kind natürlich – klar. Vor allem aber dachte ich früher, wenn ich nicht mehr bete, dann wach ich nicht mehr auf oder so. Es gibt ja auch sehr viele Menschen, die glauben und ich weiß, dass ich nicht die eine Wahrheit habe. Es kann sein, dass es einen Gott gibt. Aber diese Verschwörungserzählungen sind so fantasielos. Die Wahrheit ist viel interessanter. Man sieht aber, wie anfällig Leute sind, an Retter zu glauben, für die Scheiße, die sie selber gebaut haben. Oder jemanden finden wollen, der Schuld ist.

CM: Wie fast jede Verschwörungserzählungen haben auch diese einen antisemitischen Kern. Heute  jährt sich der antisemitische Anschlag auf eine Synagoge in Halle – wenn wir von Nähe und Distanz sprechen, wie gehst du im Alltag mit Nachrichten über antisemitischen Terror um? 

JW: Es klingt naiv: Aber immer, wenn so ein Anschlag passiert überrascht mich das. Weil ich mir denke: Es kann doch nicht wahr sein. Ich denke jedes Mal, ok das war jetzt das letzte Mal. Da verfalle ich fast in diese schlimmen Einzeltätertheorien: Jetzt werden wir lernen – also als Gesellschaft. Aber es passiert immer wieder. Das macht mich traurig, weil ich trotzdem finde, dass Deutschland ein tolles Land ist und dass wir eine tolle Gesellschaft sind.

CM: Wie schaffst du es, eine Distanz zu solchen Ereignissen aufzubauen um im Alltag trotz der Trauer, Angst und Wut weiter machen zu wollen? 

JW: Das ist diese Differenzierung, die ich auch im Beruf lerne. Du merkst einfach, auch jetzt durch die Pandemie: Wie wir leben ist fragil und ist änderbar zum Guten und zum Schlechten. Das ist die Aufgabe des Lebens, diese Ambivalenz auszuhalten: Mein Land ist gut und schlecht. Meine Familie ist gut und schlecht. Ich bin gut und schlecht. Und ich versuche gut zu sein. 

FOTOGRAFIE: Yotam Shwartz

STYLING: Julia Quante

MODEL: Jeff Wilbusch

Fotografiert am 28. Juli 2020