Hell-wach

„Techno war eine neue körperliche Erfahrung.“

DJ Hell  produzierte für ACHTUNG 15 Minuten Bassline, Melodie, Beats, Stimme und Atmosphäre – den Soundtrack zum Modefilm „Wahnsinn Wannsee“ mit Voiceovers von Lilith Stangenberg nach Lyrik von Juliane Liebert. 

Es ist taghell. Prenzlauer Berg, das Familienviertel Berlins, Kinderwagen und Dreiräder werden an den Altbauten vorbeigeschoben. Dort, wo Hell nach der Wende in den 90ern in besetzten Wohnungen auflegte. Hier sitzt Helmut Geier aka DJ Hell an einem Tisch mit rot karierter Tischdecke und trinkt eine Apfelschorle.

(Left) Jacket DRIES VAN NOTEN. (Right) Jacket DRIES VAN NOTEN; Shirt YOHJI YAMAMOTO.

Morgendämmerung

Helmut Geier ist ein Arbeitstier der Nacht. Seit über 40 Jahren steht er als DJ Hell in Clubs der Techno-, House- und Electroclash-Szene an den Plattentellern. In den letzten eineinhalb Jahren gab es keine laute Musik, keine wummernden Bässe, keine tanzenden Massen. Es gab keine Nächte – nicht so, wie Hell sie kennt: „Ich hatte 18 Monate Berufsverbot, das war keine schöne Erfahrung für mich.“ Viele Kolleg:innen der Szene, so erzählt es Hell, seien traumatisiert gewesen und haben kaum etwas veröffentlicht. Sie hätten ihre Musik in ein Vakuum rausfeuern müssen, ohne Clubs und Clubgänger:innen hätten sie keine Resonanz auf ihre Arbeit bekommen, also haben sie es gelassen. Hell hat es genau andersherum gemacht und in der Zeit gleich zwei Alben und mehrere Remixes veröffentlicht, nicht nur für die anderen, sondern vor allem für sich: „Ich war so aktiv wie selten zuvor. Ich wusste: Musik hat mich immer schon durchs Leben getragen und wird es auch weiter tun.“

Was Hell durchs Leben peitscht, sind nicht nur die bombastischen Beats, die orchestralen Hymnen und andere Effekte. Hell hat sich ganz zu Beginn seiner Karriere eine eigene Messlatte gesetzt, der er seit 1992 hinterherhetzt: „Das Fatale war, dass meine erste Single der größte Erfolg war, den ich je hatte. My Definition of House Music‘ hat sich als Vinyl über 100.000 Mal verkauft. So viel verkaufte Units hatte ich später nicht annähernd.“

Shirt EMPORIO ARMANI

Die Sonne am höchsten Punkt

Wie haben sich die Nächte in den 30 Jahren verändert, seit Hell seinen ersten Durchbruch und die Jugend in Berlin die große, neu gewonnene Freiheit feierte? Es ging schon vor der Wende los, erklärt Hell, Techno gab es schon in den 80ern. Aber nach dem Fall der Mauer wurde aus Techno mehr als eine neuartige elektronische Musikrichtung – aggressiv, brachial, puristisch und tanzbar. Techno wurde zu einer Kampfansage: Für den Kampf in der Stadt, den Kampf gegen alle Widrigkeiten und für Freiraum, den man sich im Nachtleben ertanzte. „Man hat damals nicht gewusst, dass Techno zu einer weltweiten Erfolgsformel wird und die Musikwelt revolutionieren wird“, sagt Hell und dass dass die Menschen aus den neuen Bundesländern Gas geben wollten und feiern wollten. Plötzlich, so erinnert sich Hell, habe sich die Clubszene verdoppelt und verdreifacht. Es waren endlose Partys: Freitag, Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag: „Man wollte nicht mehr aufhören.“

Coat KENZO; Sunglasses OAKLEY; Sandals BIRKENSTOCK X CSM.

Abenddämmerung

Hell lässt von seiner Apfelschorle ab und wendet sich auf seinem Stuhl, schaut sich in der Gegend um: „Prenzlauer Berg war eine düstere Gegend, hier wollte keiner wohnen.“ Viel Leerstand, kaum bewohnte Räume: Der richtige Ort für illegale Partys. Ehe er aus seiner Erinnerung zurück in die Gegenwart kommt, holt ihn seine Vergangenheit ein: Ein Spaziergänger mit Golden Retriever und Funktionskleidung: „Verzeihung, dass ich störe: Hell erinnerst du dich noch? Ich bins, Wladimir. Ich habe dich jetzt so viele Jahre nicht mehr gesehen! Ich bin jetzt 12 Jahre raus.“ Hell nickt verständlich, wie ein Gruß aus der Nacht in den Tag. „Ich habe noch mal studiert“, erzählt Wladimir etwas verlegen. „Bin jetzt Psychotherapeut. Ungefähr dieselbe Arbeit, nur anderes Publikum.“ Beide lachen. „Du weißt schon, wie ich es meine.“ „Aber kein Nachtleben mehr?“, fragt Hell. Keine Antwort, nur Bewunderung: „Dir folge ich natürlich noch, ich freue mich jedes Mal, wenn von dir was Neues rauskommt.“ „Ja, ich bin immer noch dabei“, sagt Hell und wendet sich ab: Den kenne ich von früher, erklärt er, zurück in der Gegenwart.

Wer ist dieser DJ Hell? Helmut Geier ist gelernter Betriebsschlosser, nach der Schule sei der Einfluss seiner Eltern noch sehr groß gewesen, erklärt er. Aber seine Musikbegeisterung sei schon immer da gewesen. Seine ersten Gigs hatte er im dörflichen Jugendzentrum mit geliehenen Platten von Freunden. Doch wäre Hell kein DJ geworden, hätte er ein Leben als Sportler vor sich gehabt: „Sport war mein Lebenselixier.“ Hell spricht dabei nicht nur von einer Sportart, sondern gleich von der kompletten Palette, die Olympia zu bieten hat; alles, was ihm gefallen hat, machte er: Von Tischtennis, Eishockey bis Skifahren, Tennis, Fußball, Leichtathletik: „Ich hatte jeden Tag Training und am Wochenende waren die Wettkämpfe.“

(Left) Shirt and pants YOHJI YAMAMOTO; Necklace SASKIA DIEZ; Shoes DIOR MEN. (Right) Total look GUCCI.

Nacht

Dann kam die Nacht in sein Leben. Mit 18 fing er an mit Freund:innen auszugehen, war bis früh morgens unterwegs und hatte immer weniger Stunden Schlaf zwischen der Tanzfläche und seinen Wettkämpfen und Trainingseinheiten am Morgen. Lange versuchte er, Nacht und Tag in einem Leben zu vereinen, flog nach Gigs in Berlin am frühen Mittag nach München, um dort nachmittags mit seiner Fußballmannschaft auf dem Platz zu stehen: „Das war die schönste Zeit meines Lebens. Leistungssport war meine Zukunft.“ Bis er so erfolgreich wurde, dass die Nacht zu seinem Geschäft wurde und den Tag verdrängte: Dass er um vier Uhr nachts anfange und die Nacht durcharbeitete, wurde zum Alltag. Am nächsten Tag dann das nächste Land, die nächste Stadt, der nächste Club. Die Nacht kann einen in seinen Bann ziehen: versteckte Abgründe, Drogen, Alkohol, wenig Schlaf. Sie kann zerstörerisch sein. Wie macht man sie sich zu seinem Freund? „Ich trinke keinen Alkohol, ich rauche nicht, ich mache kein Doping, schlafe viel und versuche aktiv zu bleiben“, sagt Hell und leert seine Apfelschorle. Den Schlaf holt er am Tag nach. „Ich habe natürlich Schlafbrillen, spezielle Kräuterkissen, Ohropax und alles Mögliche. Es muss tagdunkel sein. Es muss schwarz sein.“

So schwarz wie seine Kleidung. Hell trägt schwarz. Immer schwarz. Nur seine Samt-Slipper sind rot: Rote Schuhe – das Machtsymbol der Päpste, Aristokraten und Könige. Helmut Geiers Plattenlabel heißt International Dee Jay Gigolo Records, er gründete es 1997. „Damals wurden wir als DJs gebucht. Schliefen in Fünf-Sterne-Hotels. Flogen Business-Class. Lernten tolle Leute kennen. Aßen in den schönsten Restaurants und spielten in den angesagtesten Clubs.“ Der Name machte einfach Sinn, sagt Hell.

(Left) Coat YOHJI YAMAMOTO; Bag CHANEL MÉTIERS D’ART 2020/21; Boots DSQUARED2. (Right) Top DRIES VAN NOTEN; Shorts MARNI.

Sternenstunde

Hell hatte nie vor, ein eigenes Label zu gründen, die ganze Bürokratie, die Vermarktungsstrategien, Hits zu produzieren, das alles sei nichts für ihn gewesen. Bis es ihm reichte, wie die Labels mit den Künstler:innen umsprangen und es ihn ärgerte, wie viel Musik ungehört blieb. Also erfand er eine eigene Vermarktungsstrategie und nannte sie: Terrorpromotion. „Du konntest in keinen Club mehr gehen, kein Magazin mehr aufschlagen, ohne dass wir präsent waren: Die DJs & Live Acts von International Deejay Gigolo Records.“ Er hatte Vermarktungsbüros in Barcelona, Berlin, München, London, Paris und New York. Das war natürlich kostspielig, aber die Gewinne des Labels wurden für die Künstler:innen einfach immer wieder reinvestiert. Die Gigolos erfanden nicht nur eine neue, penetrante Art der Vermarktung, sondern gleich eine neue Ästhetik von Techno-DJs. Mode war in der Szene verpönt: Modeidioten nannten sie die Leute, die zu den Fashionshows und Modewochen rannten. Nicht so Hell, der sich immer schon für Mode interessierte hatte und mehrere Kooperationen mit Marken wie Balenciaga, Versace und Misbhv einging. „Es gab Martin Margiela Kollektionen, da hätte ich gerne jedes Teil gekauft. Mode, Kunst und Musik, das lässt sich für mich nicht trennen.“ Es war die maximale Provokation in der Berliner Technowelt: Die Musik sollte unabhängig sein, nicht kommerziell. Hell hingegen legte in teuren Margiela Dreiteilern auf: „Das war eine Kriegserklärung in den 90ern.“ Hell war einer der ersten DJs, der deutschen Techno in New York auflegte und in einer Universität in Havanna dafür sorgte, dass der Strom ausfiel: „House und Techno war eine neue euphorische Musik, eine neue musikalische Ausdrucksweise. Es gibt Länder, wie Finnland, Japan oder Kuba, da durfte ich als Missionar tätig sein und erstmalig deutschen Techno als DJ vortragen.“ Hell war nicht nur Teil dieser Szene, er hat sie mitaufgebaut, sie demoliert und weiterentwickelt.

Coat YOHJI YAMAMOTO; Pants BALENCIAGA; Sunglasses EMPORIO ARMANI; Sandals BIRKENSTOCK X TOOGOOD.

Absolute Dunkelheit

Und er hört nicht auf, die Szene neu zu erfinden: In Zukunft will er, dass Avatare für ihn auflegen. „Die sollen dann für mich die Arbeit vor Ort machen, den Mix bereite ich zu Hause vor. So könnte ich simultan weltweit performen.“ DJ Hell gleichzeitig in mehreren Städten, Ländern, gleichzeitig auf verschiedenen Kontinenten – irgendwo ist immer Nacht. Helmut Geier könnte derweil auf dem bayerischen Land sein, in seiner Heimat, wo er sich gerade in den letzten Monaten immer wieder aufgehalten hat. Wonach klingt eine Nacht im Voralpenland? „Nach Stille. Es ist gut, dass da nichts ist.“ Absolute Dunkelheit.

Title image: Coat ISABEL MARANT

Photos: Konrad Waldmann

Title image shot by Julia von der Heide

Styling: Markus Ebner

Models: Ayman Salah / Modelwerk

DJ Hell

Lilith Stangenberg

Produzent und Konzeption: Marcus Kurz / Nowadays

 Location: Strandbad Wannsee und Berliner Ruder-Club e.V.