Die Verwandlung

Der Couture-Schneider Michael Browne über den Blick in den Spiegel

Michael Browne kann sich noch genau an den Moment erinnern, als er seinen allerersten Anzug trug. Es war Brownes 10. Geburtstag, zweimal wechselte er an diesem Tag sein Outfit. Seine Mutter hatte ihm drei Anzüge geschneidert: einen Zweireiher und zwei Einreiher, alle in Navy Blau, einer mit Nadelstreifen. „Ich habe von klein auf immer auf schöne Dinge geachtet“, sagt Browne, und: „Das war schon immer so, seitdem ich denken kann.“ Wie ein Naturgesetz. Browne erinnert sich, wie er vorm Spiegel stand und sich in seinem Anzug betrachtete, den ersten, den er jemals trug. Er war zufrieden. Und irgendwie stolz. Browne war wie verwandelt. Es wird dieses Gefühl sein, dieser Ausdruck auf seinem eigenen Gesicht, den er Jahre später immer wieder in den Gesichtern seiner Kunden suchen wird, wenn sie das erste Mal ihren fertigen maßgeschneiderten Anzug anprobieren und sich im Spiegel betrachten. Ist der Ausdruck da. Ist der Anzug gut. Fehlt er. Fehlt dem Anzug etwas.

Michael Browne gilt als einer der talentiertesten in der Savile Row ausgebildete Modeschöpfer Londons. Als der Neuerfinder des Five-Piece Anzugs. Der die Maßschneiderei auf ein anderes Niveau gehoben haben soll. Wer ist dieser Mann?

Einer von Michael Brownes Entwürfen

Jedes seiner Kleidungsstücke fertigt Browne so, dass es ein Leben lang halten kann. Und darüber hinaus. Browne sagt er fertige ausschließlich Erbstücke. Er selbst habe noch nie einen Anzug vererbt bekommen. „Ich stamme nicht aus einer reichen Familie“, sagt Browne. Ein bisschen so, als wäre das die zu erwartende Norm bei einem Menschen, der Anzüge für Menschen fertigt, die Millionen versteuern und die Kleidung auf Bühnen und roten Teppichen tragen. Aber Browne ist nicht die Norm. Browne ist ein klassischer Underdog, ein Nonkonformist. „Es ist nicht schlimm, dass ich nichts geerbt habe“, sagt Browne, „Jetzt mache ich mir meine eigenen Anzüge.“

Brownes Geschichte beginnt etwas vorhersehbar wie die Geschichte eines klassischen Underdogs. Mit einer Zurückweisung. Nein, eigentlich beginnt sie mit einer behüteten Kindheit und einem Jungen mit großen Träumen und einem noch größeren Willen. Hier beginnt auch Browne, wenn er seine Geschichte erzählt, in der Kindheit. Am Ende der Geschichte wird er sagen: „Ich bin froh, dass wir dieses Gespräch geführt haben.“ So als wäre es ein bisschen heilsam, über seinen Kampf zu sprechen. So, als wäre es das erste Mal gewesen, dass er seine Geschichte erzählt.

Browne wuchs auf mit einer Mutter, die Schneiderin war. Und einem Vater, der wollte, dass sein Sohn etwas Bodenständiges macht. Trotz des Berufs seiner Mutter: „Kreativität wurde nicht gefördert“, sagt Browne. Er studierte Softwareingenieurwesen. Und hasste es. Zwei Jahre lang. Was Browne hingegen sein ganzes Leben lang liebte, war Kleidung. Neben dem Studium jobbte er in Bekleidungsgeschäften zusammen mit den Studenten der privaten Mode-Unis, die Browne sich nie hätte leisten können. „Das war sozusagen meine Einführung in die Welt der Luxusmode“, sagt Browne. Damals schaute er noch sehnsüchtig von außen auf sie. Aber er wollte mehr als nur ein Teil von dieser Welt sein: Er wollte wissen, wie ein Kleidungsstück funktioniert. Er wollte jede einzelne Naht verstehen, jedes einzelne Knopfloch, er wollte jedes Detail kennen. Doch alle Studenten, die mit ihm im Laden jobbten, wollten Designer werden, alle wollten ein Praktikum bei den Maßschneidern und nur die wenigsten bekamen eine Chance.

Michael Browne fotografiert in seinem Atelier

Eine Michael Browne Jacke in Arbeit

Browne bettelte die Maßschneider an, die die Anzüge schneiderten, die er als Mitarbeiter im Shop verkaufte: „Geben Sie mir nur eine Chance, ein Treffen.“ Er gab nicht auf und beeindruckte sie schließlich mit seiner Hartnäckigkeit. Sie knickten ein und ließen Browne künftig im Atelier arbeiten – geheim, niemand durfte davon erfahren, Browne hatte nicht mal Design studiert, er hatte keine Erfahrung. Eigentlich hätte er niemals einen Praktikumsplatz bekommen dürfen, in der Reihe vor ihm standen noch zig andere Studenten. Doch Browne durfte im Atelier helfen. Erst nur eine Stunde pro Woche, dann zwei, dann einen halben Tag, dann einen ganzen. Browne arbeitete, ohne bezahlt zu werden. Er räumte auf, kochte Tee und beobachtete: „Ich mache alles, was getan werden muss. Ich bin hier, um von euch zu lernen“, habe Browne zu den Meistern gesagt, wie er sich heute noch erinnert.a

Er blieb ein Jahr dort, bis alles aufflog und die ersten Menschen im Team anfingen, über ihn zu reden. Sie hatten durchschaut, dass die Meister Browne ein nicht genehmigtes Praktikum machen ließen. Sie meldeten ihn bei der Geschäftsführung. „Wie kommt jemand wie er ohne Erfahrung an ein Praktikum?“, beschwerten sich die anderen. Browne sollte gehen. Aber ein Meister war Brownes Geschick und unbändiger Wille aufgefallen: „Ich sehe, dass du leidenschaftlich bist“, habe er zu ihm gesagt und: „Ich werde dir helfen.“ Er öffnete den Shop am Samstag, an einem Tag, an dem niemand sonst im Atelier war und ließ Browne weiterhin kommen: „Sag das niemanden“, habe er zu Browne gesagt. Doch dann kam der Ladenbesitzer eines Samstags unangekündigt und sah Browne. „Ich habe Hallo gesagt, aber alles, was er mir gab, war ein kühler Blick.“ Browne habe an dem Tag einfach weitergearbeitet. Doch in der nächsten Woche rief ihn die Personalabteilung an: „Wir hatten dich gewarnt und dir gesagt, dass du nicht mehr kommen solltest.“ Das war das Ende.

Im Haus Chittleborough & Morgan verfeinerte Browne seine Fertigkeiten

Genug Wissen, um sich um einen Job als Maßschneider zu bewerben, hatte Browne in dem Jahr noch nicht gesammelt. „Ich stand vor einer Kreuzung“, sag Browne: „Entweder höre ich jetzt auf und gehe zurück zu diesem Computer Zeug oder es muss irgendwie funktionieren. Also habe ich meinen Anzug angezogen und bin losgezogen.“ Es war dieser Gedanke, der Browne in die Savile Row brachte. Die Straße der Maßschneiderei in Mayfair, im Londoner Stadtbezirk City of Westminster, in der sich eine Manufaktur an die nächste reiht. Browne wollte von den Meistern lernen. Und dann selbst zu einem werden.

Es begann eine Odyssee, die stark an die Herbergssuche von Maria und Josef in Bethlehem erinnert: Browne zog von Maßschneiderei zu Maßschneiderei, klingelte an jeder Tür. In der Hand seinen Lebenslauf, eine DIN-A-4-Seite. Er erfuhr nichts als Ablehnung. Ohne Studium. Ohne Geld. Und: Er galt schon als zu alt für eine Ausbildung in der Savile Row. Mit Mitte zwanzig. Die Meister wollten einen Lehrling, den sie nach Belieben formen konnten. Weiß, jung, englisch – die Tradition der Savile Row aufrecht erhaltend. Browne war das Gegenteil, er wusste, was er wollte, er hatte bereits Erfahrung im Berufsleben, er ist ein selbstbewusster junger Mann und schwarz. Dann akzeptierte ihn doch noch ein Haus: Chittleborough & Morgan. Es war ein kleines Unternehmen mit drei Meistern, wo jeder Meister einen Anzug von Anfang bis Ende fertigte und nicht nur einen Teil des Anzugs wie in den großen Manufakturen. Browne arbeitete mit allen drei Meistern zusammen, schaute ihnen auf die Hände, beobachtete ihre Bewegungen, hörte zu, lernte die Sprache ums Schneidern. Viereinhalb Jahre hat Browne dort ohne Bezahlung gearbeitet. Dann ein paar weitere bezahlte Jahre, nachdem einer der Meister in den Ruhestand gegangen war.

150 bis 200 Stunden investiert Browne in einen Anzug

2017 gründete Michael Browne seine eigene Firma

Was Browne über die Jahre in der Savile Row gelernt hatte, die Anzüge, die er und die anderen Meister schneiderten, gefielen ihm. Aber sie begeisterten ihn nicht. Er fragte sich: Wenn ich ein reicher Mann wäre, der einen Anzug will, der das Beste aus mir rausholt. Wo würde ich hingehen? In die Savile Row? Die meisten Anzüge von dort sein eher traditionell. „Was kann ich tun, damit jeder Kunde in einem Anzug sexy aussieht, unabhängig von seiner Größe und seinen Körperproportionen?“, fragte sich Browne. Sein eigenes Label war die Antwort. 2017 verließ er Chittleborough & Morgan, um seine eigene Marke zu gründen. Er wollte nicht nur die beste Maßkonfektion der Welt herstellen, sondern auch viele der Prozesse verändern, die er in der Savile Row gelernt hatte.

Das Erste, was er mit seinem eigenen Label veränderte: Mehr Geld für sein Handwerk nehmen. Er arbeitete nicht die üblichen 80 Stunden, sondern zwischen 150 und 200 Stunden an einem Anzug. „Einige Menschen fanden meine Preise unverschämt. Andere haben die Mühe und die Kunst in den Entwürfen erkannt. Sie waren ihnen das Geld wert“, sagt Browne. Er versprach ihnen etwas, das niemand sonst tat: Eine Mischung aus einem wirklich gut designten Anzug, elegant und stilvoll und gleichzeitig auf einem sehr hohen Niveau gefertigt. Ein Design, das sich genau an den Menschen anpasst. „Eigentlich nicht nur an sie anpasst, sondern die Menschen besser macht“, sagt Browne. Es müsse eine Art Verwandlung stattfinden. Mit seinen Anzügen wolle er jeden Körper in seine beste Version bringen. Es geht Browne um mehr Design, das sich um das Handwerk dreht: Couture-Mode für Männer. Mittlerweile kleidet er Künstler wie Drake, Skepta und Chiwetel Ejiofor ein.

Jedes erste Treffen mit seinen Kunden macht Michael Browne selbst. Er vermisst ihre Körper, lernt ihre Figur kennen und ihren Geschmack. Dann zeichnet er das Schnittmuster per Hand auf Papier und schneidet den Stoff zu. Das Bündel gibt er an sein Team weiter. Bei den meisten ersten Anproben ist der Anzug erst mal nur grob zusammengenäht. Man kann die Linie des Revers nicht sehen, er hat vielleicht nur einen Arm. Bei Browne sind alle Teile des Sakkos bereits an ihrem Platz und sauber zusammengeheftet. Er nennt es die Hülle. Bevor der Anzug mit Leben gefüllt wird. Bis ins Detail perfektioniert. Er macht das, weil er glaubt, dass es dem Schneider und dem Cutter hilft, eine bessere Vorstellung davon zu bekommen, wie der Anzug einmal aussehen soll.

Doch der entscheidende Moment für Browne ist, wenn ein Kunde für die letzte Anprobe in seinen Laden im Berkeley Square in London kommt: „Wenn ich ihre Gesichter sehe, dann macht mich das glücklich“, sagt Browne. „Die ganze Arbeit, die wir in die Anzüge stecken, machen wir für diesen einen Moment. Wenn man die Verwandlung sieht.“