ACHTUNG: Wie würden Sie jemandem, der überhaupt keine Ahnung von der Modewelt hat, Ihren Job erklären?
Alice Bouleau: Am ehesten wahrscheinlich so: Ich bin ein „Matchmaker“ der Modewelt. In gewisser Weise arrangiere ich eine Art Ehe zwischen Menschen, meist zwischen einem:r CEO und einem:r Kreativen, die gut zueinander passen. Und zwar gut im Sinne von deren Fähigkeiten, aber auch, die Persönlichkeit und die Unternehmenskultur betreffend. Eigentlich sollten sie auch die gleichen Werte und eine ähnliche Vision haben. Im Idealfall ergänzen sie sich so, dass eins und eins drei ergibt, sie gemeinsam also mehr sind als die Summe ihrer Teile.
A: Vor zehn, fünfzehn Jahren hätten viele gesagt: Na ja, so schwer ist das ja nicht. Man nimmt eine:n möglichst angesagte:n und bekannte:n Designer:in wie John Galliano oder Marc Jacobs und setzt ihn:sie auf den gerade vakanten Job eines Luxuslabels.
AB: Genau, aber heute ist es ungleich komplexer. Der Druck ist enorm hoch, vielleicht sogar zu hoch. Heute soll ein:e Creative Director:rice selbstverständlich ein:e talentierte:r Designer:in sein, aber auch das PR-, Medien- und Celebrity-Business draufhaben, um eine:n perfekte:n Botschafter:in für die Marke abzugeben. Er:Sie sollte eine große Community haben, digital denken und natürlich etwas von Merchandising und Sales verstehen. Das kann aber kein:e Designer:in alles allein machen. Deshalb hängt sein:ihr Erfolg – oder sein:ihr Scheitern – immer auch davon ab, wie viel eine Firma in die unterstützenden Stellschrauben investiert und in das richtige Recruitment an sich.
A: Deshalb rufen immer mehr Marken Sie an. Wie finden Sie den oder die Richtige:n?
AB: Hören Sie, wie heiser meine Stimme ist? Weil ich die ganze Fashion Week über und überhaupt ständig mit Leuten spreche. Für 2023 weiß ich die genaue Zahl nicht, aber 2022 habe ich allein mit möglichen Kandidaten:innen 500 Gespräche geführt. Mit der Unternehmensseite redet man sogar noch mehr, weil ich ja vorher genau verstehen will, was für eine Person für was für eine Art Position gesucht wird, und ich ihnen meine Favoriten:innen dann möglichst gut und umfassend vorstelle, bevor sich beide Seiten kennenlernen. Sie merken, ich werde bei meiner Arbeit schnell leidenschaftlich…
A; Beim nächsten Hyères-Festival sitzen Sie in der Jury. Schauen Sie da schon nach neuen Talenten, die Sie irgendwann rekrutieren?
AB: Ja, das hilft. Wir geben auch Workshops in Schulen, coachen die jungen Designer:innen von Anfang an und verfolgen ihren Werdegang über einen langen Zeitraum. Viele Kreative haben unglaubliches Potenzial, aber sie sind oft wie Rohdiamanten. Man muss sie erst in das richtige Setting bringen und ihnen den besten Schliff verpassen, damit sie glänzen.
A: Wie läuft das Matchmaking dann typischerweise ab? Eine Marke hat sich von ihrem:r Chefdesigner:in getrennt – oder will sich bald trennen. Wie viele Alternativen stellen Sie dem:r CEO dann vor?
AB: Es gibt nicht das eine Rezept, aber wenn wir beauftragt werden, starten wir einen sogenannten Identifikationsprozess: Welches Profil wird überhaupt gesucht? Dann schauen wir in unsere eigene Datenbank, die nur Sterling-Mitarbeitern:innen zugänglich ist. Da sind 130.000 Namen enthalten, allerdings für alle Jobpositionen. Gelegentlich gucken wir auch mal bei LinkedIn, für Kreative vielleicht eher bei Instagram. Dann kommt das „Sourcing“, das extrem hilfreich ist: Wir rufen Leute an, die wir schätzen und denen wir vertrauen – Journalisten:innen, CEOs, Einkäufer:innen – und fragen sie nach ihrer Meinung, natürlich ohne die konkrete Marke zu nennen. In 99 Prozent der Fälle kenne ich die genannten Namen schon, aber sie liefern einen guten Indikator, was die Branche gerade denkt. Manchmal fallen mir auch sofort zwei oder drei Designer:innen ein, die auf eine Jobbeschreibung passen würden. Schließlich mache ich den Job jetzt schon fast sechs Jahre.
A: Sie haben gerade so gegrinst, als würden Sie an eine bestimmte „Paarung“ zurückdenken.
AB: Bei einem Auftrag habe ich tatsächlich nur eine einzige Person vorgeschlagen, weil die Verbindung einfach so offensichtlich war – und derjenige wurde sofort engagiert, es war unglaublich! Aber das passiert fast nie. Normalerweise treffen wir eine Vorauswahl von drei oder vier Kandidaten:innen. Vielleicht justieren wir noch einmal mit drei oder vier anderen nach, aber insgesamt schlagen wir nie mehr als zehn vor. Unsere Klienten wollen ja schließlich, dass wir ihnen Arbeit abnehmen, sonst könnten sie das Ganze auch selbst erledigen.
A: Matthieu Blazy bei Bottega Veneta, Seán McGirr bei Alexander McQueen, Sabato De Sarno bei Gucci: Ist es der aktuelle Trend, aus der zweiten Reihe zu rekrutieren?
AB: Ja, das ist definitiv ein Trend. Allerdings hat es das immer schon gegeben, weil eine Marke oder ein:e CEO gern für sich reklamiert, DEN Rohdiamanten entdeckt zu haben. Im Grunde gibt es drei verschiedene Profile: Jemand aus der zweiten Reihe, der alle Strukturen einer großen Marke bereits kennt. Dann den:die Stardesigner:in, die Hedi Slimanes dieser Welt, die sich schon bewiesen haben. Drittens den:die aufstrebende:n Jungdesigner:in mit eigener Marke, der:die die meist auch behalten will, was heute aber immer seltener geht. Es kommt, wie gesagt, immer auf die jeweilige Jobbeschreibung an, aber meistens ist ein:e Kandidat:in aus jeder Kategorie dabei. Wobei wir dann jeweils darauf hinweisen, dass beispielsweise jemand aus der zweiten Reihe vielleicht noch keine Erfahrung mit Kampagnen und Merchandising hat und man bei einem solchen Profil sichergehen müsste, den nötigen Support zu gewährleisten.
A: Warum gehen die Topjobs zuletzt so wenig an Frauen? Wo es doch definitiv herausragende Designerinnen gibt, siehe Miuccia Prada, Maria Grazia Chiuri oder Phoebe Philo.
AB: Sehr wichtiger Punkt! Wobei das Problem längst nicht nur im Design existiert, sondern in allen Bereichen, und nicht nur in der Modewelt, sondern überall. Wenn ich einen neuen Auftrag bekomme und in die gerade genannten drei Kategorien schaue – da sind einfach nicht viele Frauen dabei. Höchstens bei den aufstrebenden Jungdesignerinnen und der Grund dafür ist leider ganz einfach: In größeren Firmen werden Frauen insgesamt viel seltener befördert und Männer steigen nicht nur häufiger, sondern auch schneller auf. Wenn du als Frau also talentiert bist, ist der beste Weg immer noch, dein eigenes Label zu gründen.
A: Aber warum steigen Frauen seltener auf? Immer noch, weil sie womöglich irgendwann schwanger werden und den anstrengenden Job angeblich nicht mit Familie vereinbaren können?
AB: Das ist weiterhin ein Grund, aber nicht der entscheidende. Eine Rolle spielt auch das Netzwerk, das du brauchst, um nach oben zu kommen. Viele PR-Agenten, Fotografen, wichtige Medienmenschen sind Männer und promoten eher Männer. Die Ursache für die Unterrepräsentation von Frauen fängt meiner Meinung nach aber schon mit der Art an, wie wir großgezogen werden: Mädchen wird gesagt, sie sollen nicht so vorlaut und energisch sein, sondern höflich, um nicht als aggressiv rüberzukommen, während Jungs ruhig ein bisschen frech sein dürfen und auf Bäume klettern sollen, was im übertragenen Sinne ja auch irgendwie bedeutet: hoch hinaus! Ich erinnere mich, dass auf der Business School meine männlichen Klassenkameraden einfach den Mund aufmachten und ihre Meinung äußerten, auch wenn sie von einem Thema überhaupt keine Ahnung hatten. Frauen dagegen betreiben permanentes self-censoring und wägen viel mehr ab. Wir sehen das auch in der Art, wie sich die unterschiedlichen Geschlechter für Jobs präsentieren: Männer haben überhaupt kein Problem damit, sich für ein Jobprofil zu bewerben, das ein oder zwei Stufen über ihrem aktuellen liegt. Frauen dagegen hegen selbst beim gleichen Level noch Selbstzweifel. Es ist unglaublich, wie weit verbreitet das Imposter-Syndrom bei Frauen ist. Das müsste viel mehr thematisiert werden, Frauen brauchen gezieltes Training, um selbstbewusster aufzutreten. Ich glaube, ich habe wirklich noch nie eine Frau sagen gehört: „Ich bin mir sicher, ich schaffe den Job.“
A: Zuletzt wurde außerdem häufig kritisiert, wie wenig divers die Modebranche in Führungspositionen ist. Maximilian Davis bei Ferragamo ist einer der ganz wenigen schwarzen Kreativdirektoren:innen. Asiat:innen sind aktuell kaum vertreten.
AB: Hier spielt oft der finanzielle Background eine Rolle. Die meisten Schulen kosten viel Geld und wenn du nebenbei arbeiten musst, was ich zum Beispiel auch immer musste, fehlt dir die Zeit, um sie in die Kollektion zu stecken. Auch die drei, vier, fünf Praktika, bis du irgendwann einen Assistenzjob ergatterst, sind oft unbezahlt. Wie viele Berufsanfänger:innen ohne reiches Elternhaus können sich das leisten? Abgesehen vom Geld fehlen auch andere Privilegien: Wen du kennst, wie du sprichst, welche „Kultur“ du hast. Vor allem die französische Modewelt war bis vor wenigen Jahren sehr bourgeois geprägt. Du musstest zu einem bestimmten Zirkel gehören, um weiterzukommen, egal wie talentiert jemand war. Auch daran müssen wir als Industrie arbeiten. Nicht zu vergessen das Thema mental health, das mir sehr wichtig ist. Wir kriegen als Headhunter so viel mit, was in den einzelnen Häusern vor sich geht. Toxisches Verhalten darf nicht einfach totgeschwiegen werden.
A: Sie sagten eingangs, Sie verstehen sich als Kupplerin. Bisweilen klingt der Job fast ein bisschen nach Therapeutin.
AB: Absolut richtig. Mit Sterling gehören wir zu den teuersten der Branche, weil wir eine offene Stelle immer komplett durchleuchten: Warum wird überhaupt jemand Neues gesucht? Was ist mit dem:r Vorgänger:in? Aus welchen Gründen ist jemand gegangen oder musste gehen? Wie ist das Klima im Atelier – gibt es Parallelen zu anderen, die die Marke ebenfalls verlassen haben? Gibt es vielleicht grundsätzliche Probleme im Haus, die auch ein:e neue:r Kreativdirektor:in nicht lösen wird? Designer:innenposten zu besetzen heißt eben nicht nur, einfach eine Lücke zu füllen. Das kann ich sehr viel billiger mit LinkedIn erledigen. Ich bin vielmehr dafür da, mit dem Kunden zu brainstormen und ihn zu beraten. Bei den einzelnen Kandidaten:innen versuche ich zu coachen und ihnen zuzuhören. Zu vielen baut man über die Jahre eine enge Beziehung auf – und die pflegen wir selbst nach erfolgreicher Vermittlung noch.
A: Wie eine Art Nachkontrolle im Anschluss an die Behandlung?
AB: Im Grunde ja. Wir haben ein Follow-up-Schema: Ein Call nach dem ersten Arbeitstag, einer nach der ersten Woche, im ersten halben Jahr einmal im Monat und dann nach dem ersten Jahr. Manchmal telefoniert man sogar öfter, gerade wenn der Prozess kompliziert war. Mit einigen Designern:innen gehe ich regelmäßig etwas trinken. Das ist eine nette und gute Tradition, denn manchmal kann man dabei Dinge klären, bevor sie im Job zu einem echten Problem werden.
A: Hat die Branche grundsätzlich ein Geduldproblem? Bei Daniel Lees dritter Kollektion für Burberry hieß es kürzlich mal wieder: Jetzt muss er aber wirklich mal was reißen!
AB: Das nervt mich wahnsinnig, egal, um wen es dabei geht. Die Ungeduld in unserer Branche wird immer schlimmer, wahrscheinlich weil der Takt in unser aller Leben grundsätzlich steigt, wir Nachrichten und Unterhaltung immer schneller konsumieren. Natürlich sind die Leute schnell gelangweilt, aber dem Nachzugeben ist gefährlich, gerade in der Luxusindustrie, in der es vor allem um Handwerk und Zeitlosigkeit gehen sollte. Denken Sie an Phoebe Philo – da wurden noch Jahre investiert, bevor das Label wirklich abhob. Oder Jonathan Anderson bei Loewe. Das war kein Instant-Hit! Heute kriegt keine:r mehr die Zeit, wirklich etwas aufzubauen, nicht der:die CEO und erst recht nicht der:die Designer:in. Dabei ist die erste Show nur ein winziger Punkt, erst mit der zweiten und dritten wird eine Richtung daraus. Wenn ein:e Designer:in die dritte Kollektion zeigt, sind seine:ihre ersten Sachen doch gerade erst in den Läden verkauft worden. Ich sage immer: Nach zwei Jahren können wir anfangen, Bilanz zu ziehen. Vorher macht das überhaupt keinen Sinn.
A: Ihr „Match made in Heaven“ aus den letzten Jahren?
AB: Lassen Sie mich überlegen. Ha! Chemena (Kamali) bei Chloé. Beide waren wie füreinander bestimmt – und damit hatte ich nicht mal was zu tun. Übrigens auch sonst kein:e Headhunter:in. Die Marke kam selbst auf Chemena zu, aber wir haben intern seit Jahren darüber gesprochen, dass sie perfekt für den Job wäre. Ihr Name stand quasi an der Tür, und es hat mich verrückt gemacht, dass es nicht passierte. Sie ist perfekt für den Job.