Als Anna October am 30. September in einem Pariser Atelier im siebten Arrondissement ihre Kollektion zeigte, war das nicht nur die Präsentation höchster Schneiderkunst. Es war ein gesellschaftliches Ereignis. Eine ukrainische Designerin, die nie zuvor Mode in Paris gezeigt hatte, präsentierte ihre Kollektion, designt in Kyiv und Paris, geschneidert überall in der Ukraine – mitten im Krieg. „Kleine Freuden müssen große Tragödien korrigieren“, zitiert Anna October die Schriftstellerin Vita Sackville-West als Motiv ihrer Kollektion, „deshalb erzähle ich kühn von Gärten inmitten des Krieges.“ An diesem Tag im September berühren sich Annas schlimmster Albtraum und größter Traum für einen kurzen Augenblick, für die Dauer einer Modenschau.
Zwei Monate später sitzt Anna October, oder Coco Chanel wie ihre Mutter sie als Kind nannte, in ihrem Atelier in Paris. Ihr letzter Gedanke vor der Show? „Ich dachte, ich würde vor Nervosität verrückt werden. Aber mein Team bestand aus meinen alten Freund:innen, die mich kennen und wissen, wie ich meine Welt anderen vermitteln kann. Alles war wunderschön.“ Anna October ist eine junge Frau in einem schwarzen Rollkragenpullover mit lockigen Haaren und braunen Augen, mit denen sie die Zimmerdecke absucht, wenn sie nachdenkt. Anna October trägt den Namen einer Revolution – einen Namen, den sie lange liebte und jetzt als Katastrophe bezeichnet.
In Annas Heimat Zaporizhzhia, im Südosten der Ukraine, lebt man von der Industrie und ihrem Metall und Eisen. Annas Familie ist eine Militär-Familie. Über Generationen hat ihre Familie für die Polizei oder das Militär gearbeitet. Anna hingegen wollte Designerin werden, das wusste sie bereits mit acht Jahren. Sie war ein Mädchen, das vom Industrieleben abgehärtet und dennoch verspielt war, schmal und sportlich. Auf alten Fotos sieht sie aus wie ein junges Mitglied der Golden Girls: Die blond-goldenen Haare hochtoupiert, der Blick von großer Selbstgewissheit.
Anna wuchs in einem kolossalen Wohnblock auf, ein Bauhaus-Bau, der von deutschen Bauhaus-Architekten für die Industriearbeiter gebaut wurde. Niemand sprach dort von Mode, es gab kaum Kunst in ihrer Umgebung, keine Museen als Inspiration. Es gab nur ihre Mutter, Oberstleutnant im Polizeidienst, die ihr beibrachte, was es bedeutet, eine „Lady“ zu sein und den Grundstein für Anna Octobers kreative Handschrift legte. Annas Mutter trug jeden Tag ein Kostüm – Hose und Blazer oder Rock und Blazer. Immer in den gleichen Farben: Schwarz, Weiß oder Rot. Denkt Anna an ihre Kindheit und ihre Mutter zurück, denkt sie an den einen Satz, den sie immer wiederholte: „Act like a Lady, Anna“ – benimm dich wie eine Dame. Später wird dieser Satz zum Leitspruch von Octobers Label.
Anna ist in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der es nicht ungewöhnlich war, dass Frauen im Militär oder der Polizei dienten. Sich wie eine Lady zu verhalten bedeutete für Annas Mutter „sich großartig und anmutig zu fühlen und die Tatsache zu schätzen, dass man eine Frau ist“, sagt Anna October. Es ging um Verantwortung, um Fleiß und Freundlichkeit. Noch bevor Anna selbst vom Mädchen zu einer Frau wurde, stellte sie sich vor, wie es sich anfühle, eine Lady zu sein. Lange war die Vorstellung vom Frausein unterwegs in ihren Gedanken. Bis sie sie in Stoff verwandelte. Sie begann zu nähen und hörte nicht mehr auf.
Mit 17 zog Anna October nach Odessa. Odessa, die Hafenstadt im Süden der Ukraine, dessen Name klingt wie eine mystische Göttin, war der Ort, an dem Anna zur Designerin wurde. Sie begann bildende Künste zu studieren und gründete ihr Label Anna October – mit unter 20 Jahren. „Am Anfang gab es keine Strategie für die Gründung. Mein Label folgte keinem Schema, nur einer Vision: Ich wollte Frauen schön anziehen.“ Anna setzte einen Schritt in die Luft – aber sie trug.
„Es geht mir darum, dass sich Frauen in meiner Kleidung wohl und besser fühlen“, sagt October über ihre Kollektionen. Ihre Kleider sollen Frauen dazu bringen, sich selbst zu fühlen. „Wie selfcare aus Stoff“, sagt die 31-Jährige. Unbewusst kreiert Anna damit einen Gegenentwurf zum Frauenbild in der Mode, bei dem dünne, zerbrechliche Frauenkörper unter der Kleidung kaum noch zu sehen sind, fast gänzlich verschwinden. Bei Anna trägt der Körper das Kleid. Nicht andersherum.
Während der ersten Pandemie-Monate kam Anna kaum an neue Stoffe. Die Handelsrouten waren lahmgelegt, die Stoffmärkte geschlossen. Die 31-jährige Designerin musste mit dem arbeiten, was sie hatte, und ihren gewohnten Designprozess gänzlich auf den Kopf stellen: Nun kam erst das Textil, dann das Design. „Was dabei entstanden ist, war viel besser als alles, was ich je zuvor gemacht habe“, sagt October. 15 Menschen sind Teil ihres Teams. Für eines ihrer aufwendigsten Kleider hat sie ganze zehn Tage gebraucht, ein beiges Häkelkleid, bodenlang, handgefertigt. „Wenn meine Kleidung nicht besser ist als alles andere, was bereits auf dem Markt ist, hat sie keinen Sinn. Es gibt einfach schon zu viele Kleider in mittelmäßigen Designs.“
Anna ist extrem streng mit sich. Was nicht perfekt ist, hat keine Berechtigung. Deshalb wollte sie sich einen Ort erschaffen, der mehr Zufall als Perfektion ist, bei dem es vorrangig um Erholung geht. Anna wollte einen Garten. Einen Lustgarten. Zur Erfreuung der Sinne. Das Glück hielt einen Tag.
Am 23. Februar 2022 kaufte Anna ihren Garten. Am nächsten Tag marschierte das russische Militär in ihrer Heimat ein. Anna, dessen Familie den Namen der Oktoberrevolution trägt, an dessen Ende die Sowjetunion als sozialistischen Staat errichtet wurde, konnte sich plötzlich keinen falscheren Namen mehr vorstellen. Sie floh über Bukarest nach Paris. Ihre Mode musste sie in ihrem Atelier zurücklassen. Doch ein Mann, der in ihrem Garten gearbeitet hatte, rettete Annas Kollektion aus ihrem Atelier. Anna ließ die Mode über die Grenze nach Estland bringen. Dorthin war ein Teil ihres Teams geflohen, von da aus kam die Kleidung nach Paris. Für Fittings und Kollektionsbesprechungen reist Anna immer noch in die Ukraine, wenige Tage nach unserem Gespräch wird sie wieder in der Ukraine sein, für die ersten Anproben ihrer neuen Kollektion. Ihren Garten kann sie jedoch gerade nicht besuchen. Also baute Anna ihren Garten für die Präsentation ihrer Kollektion in dem Atelier in Paris nach. „Ich wollte die Menschen in meine Welt einladen.“
Diese Welt blüht wie ein Garten im Frühling. Statt der apokalyptischen Inszenierung von Ye für Balenciaga, in der Models durch Matsch stampften oder bei Demna, der die Models der Balenciaga-Schau gegen einen Schneesturm ankämpfen ließ, als Zeichen, dass der Krieg in der Ukraine auch zwischen all dem Glanz und der Mode nicht vergessen werden soll, kreiert Anna October Mode, die leicht und fröhlich ist. Keine Kleidung fürs Trauma, sondern für den Moment, wenn es überwunden ist.
Eine Frage an die Designerin: Wie schafft sie es, in der Tragödie Freude zu finden, wie optimistisch zu bleiben? „Mein Leben ist manchmal wie ein Drama und manchmal wie eine romantische Komödie.“ Es gebe Höhen und Tiefen. „Ich weiß, dass beides vergeht. Deswegen bin ich eine Optimistin.“