Am östlichen Ende Europas

„Am Rande Europas hoffte ich Antworten zu finden.“

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Wie schwer wiegt die Last der Geschichte? Wie schwierig wird die Zukunft sein? In einem Land, das tief gespalten ist, wandert Patrick Bienert mit seiner Kamera zwischen den Fronten hin und her und fängt dabei vor allem ein, was dazwischen liegt: die Jugend. Zwischen Betonbauten und Kirchenbänken sucht eine Generation ihre Erfüllung. Patrick Bienert verfolgt die Jugend dahin, wo sie ihre Erfüllung findet.

Seit der ersten Ausgabe der Achtung Mode richten wir den Blick immer wieder gen Osten. Ein Blickwinkel, der uns mit dem Fotografen Patrick Bienert verbindet. Über drei Jahre reiste Bienert immer wieder nach Georgien, um die Träume und den Alltag der Jugend vor Ort einzufangen. Sein Buch East End of Europe veröffentlichte er Ende Januar 2020.

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Zehn Jahre war er an den Grenzen Osteuropas unterwegs.

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Ihn beschäftigt die sowjetische Vergangenheit der Jugend.

East End of Europe ist ein Porträt einer georgischen Generation im Übergang zwischen dem sowjetischen Erbe und der Suche nach der Nähe zu Europa. Bienert traf auf das heutige Georgien, das noch immer von der Vergangenheit, der Angst vor Russland und dem Konservatismus der georgischen orthodoxen Kirche geprägt ist. Sex ist ein Tabu und die traditionellen Geschlechterrollen Alltag. Die patriarchale Gesellschaft macht Mädchen oft dann schon zu Müttern und Jungen zu Ehemännern, wenn sie noch auf der Suche nach sich selbst sind.

In den letzten zehn Jahren arbeitete Bienert neben Kampagnen für Designer wie Valentino, Miguel Adrover und Hussein Chalayan, vor allem an den Grenzen Osteuropas an mehreren Projekten zur Jugendkultur und ihrer sowjetischen Geschichte. In seinen Langzeitprojekten finden sich immer wieder dieselben Themen: Kulturen und ihre Identität, Geschichte und ihre Spuren zwischen dem Land und seinen Bewohnern. Bienert arbeitet wie ein kinematografischer Soziologe. Er und seine Kamera sind da, wo Moderne und Tradition kollidieren. Dort, wo Fragen warten: Wie schwer wiegt die Last der Geschichte? Wie schwierig wird die Zukunft sein? Bienert hat mit uns über das östlichste Ende Europas gesprochen.

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Georgiens Plattenbauten prägen das Stadtbild.

Carmen Maiwald: Für dein Buch East End of Europe bist du drei Jahre immer wieder nach Georgien gereist. Wieso Georgien, was hat dich so an diesem Land fasziniert?  

Patrick Bienert: Als ich zum ersten Mal nach Georgien kam, fühlte es sich anders an als in den anderen Ländern, die ich besucht hatte, die früher ein Teil der Sowjetunion waren. Georgien wird oft als „Italien des Ostens” bezeichnet wegen dem Wein, dem guten Essen und der Landschaft, die auf eine ganz eigene Art daran erinnert. Mich interessierte die Frage, was Europa heute bedeutet. Georgien, im Übergang zwischen sowjetischem Erbe und westlicher Moderne, am Rande Europas schien ein Ort zu sein, an dem ich hoffte Antworten zu finden.

CM: Du porträtierst eine Generation, die eine Jugend im Schatten verbringt. Einerseits der Druck aus Russland und andererseits die bisher unerfüllte Sehnsucht nach der Nähe zu Europa. War da auch Hoffnung?

PB: Nach einiger Zeit habe ich verstanden, wie viel die Hoffnung auf die Zugehörigkeit zur Europäischen Union und der Wert des europäischen Gedankens für ein Land wie Georgien und vor allem für die jüngeren Generationen bedeutet. Diese Hoffnung gibt vielen Georgiern die Kraft, die Schatten der Vergangenheit zu überwinden und die Perspektive auf eine Zukunft mit mehr Stabilität und Wohlstand, vielleicht sogar Frieden. In einer Zeit, in der die Zukunft Europas und der EU so ungewiss erscheint, war es für mich sehr interessant diesen Optimismus bei den Menschen zu erleben, die oft ausgeschlossen und vergessen werden.
Vielleicht sollte es uns daran erinnern, dass es dabei weniger um die Frage des Standortes als um den Status und die Identität geht, Europäer zu sein.

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Georgien ist gespalten zwischen dem Fortschritt und konservativer Tradition.

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Der seit 2008 bestehende Konflik bestimmt das Leben der Georgier.

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Das Bassiani, Georgiens größter Technoclub, veranstaltet monatlich die Horoom Nights für die LGBT Szene.

CM: Die Jugend lehnt sich auf gegen die Angst vor Putin. In der Techno Szene ist jeder Schritt auf der Tanzfläche zu einer Demonstration geworden, sie kämpfen für Schwulen- und Lesbenrechte und Gleichberechtigung – für ihre Freiheit. Wie hast du diese Generation erlebt?

PB: Viele der jüngeren Generationen sind sehr aufgeschlossen und motiviert. Eine sehr gute Freundin hat vor etwa drei Jahren in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, die erste und einzige Schwulen- und Lesbenbar eröffnet. Sie setzt sich sehr für die ständig wachsende Community und gegen die größtenteils homophobe Gesellschaft ein. Die Klubkultur ist insofern sehr wichtig für diese Generation, weil sie Schutz für den persönlichen Ausdruck sexueller Identität und politischer Orientierung bietet. Nach Razzien der Polizei 2018 in mehreren Clubs in Tiflis, demonstrierten tausende Jugendliche tanzend für mehrere Tage vor dem Parlament für liberalere Lebensformen und gegen die unverhältnismäßig harten Strafen bei Drogenbesitz. Der Zusammenhalt dieser Generation ist bewundernswert.

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Sex ist in Georgien ein Tabu und die traditionelle Geschlechterrollen sind ausgeprägt.

CM: Trotzdem gibt es noch diese strikten Rollenbilder, vor allem geprägt durch die orthodoxen Vorstellungen der Kirche. Wie macht sich das in deinen Bildern bemerkbar?

PB: In der patriarchalischen Gesellschaft Georgiens wird von den meisten Frauen weiterhin erwartet, dass sie sich den Konventionen unterwerfen. Liebesbeziehungen ohne Heirat sind inakzeptabel. Fast alle der portraitierten Frauen sind junge Mütter und haben früh geheiratet, da dies oft der einfachste Weg ist, aus den konservativen, kirchenorientierten Familienstrukturen herauszukommen, weil viele Familien ihren Töchtern nur erlauben, auszuziehen, wenn sie verheiratet sind.

CM: Für dein Buch bist du in einen Dialog mit der georgischen Jugend getreten. Hast du durch dieses Projekt auch deine eigene Freiheit oder deine eigene Jugend hinterfragt?   

PB: Ich bin seit meiner Jugend viel gereist, was für die meisten Jugendlichen in Georgien heute leider immer noch nicht so einfach möglich ist. Mein Interesse an Ost Europa kommt auch durch die Vergangenheit meiner eigenen Familie, da meine Großmutter aus der Sowjetunion geflohen ist als mein Vater noch sehr jung war.

Ost Europa Old Man Looking Hand Black White Church

Sein Handwerk lernte der Fotograf an der Staatlichen Lehranstalt für Fotografie in München.

CM: In drei Jahren kann sich eine Gesellschaft und auch eine ganze Generation wandeln. Welche Veränderungen hast du in deinen Bildern wahrgenommen – positive und negative?  

PB: Während die Georgier früher Wege zur Wahrung der Kultur finden mussten, um die ideologischen Forderungen des Sowjetregimes zu unterwandern, ist es ihnen gelungen die georgische Identität zu erhalten. Vielleicht gibt es auch heute zwischen stagnierender Tradition, dem gnadenlosen Fortschritt und der fortwährenden Angst vor Russland einen Weg über die Kultur für dieses wunderbare Land.

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Bienert traf auf die Hoffnung einer neuen Generation.