Adelheid Rasche über Trachten

Gelüftet: Das Geheimnis der 14 Bollen

Adelheid Rasche zum Thema Trachten im Gespräch mit Achtung

Warum schmückt immer dieselbe Anzahl roter Bollen die Hüte im Schwarzwald? Wie wurde aus der ländlichen Bekleidung überhaupt die Volkstracht? Und was hat das alles mit der zeitgenössischen Mode zu tun? Kunst- und Modehistorikerin Adelheid Rasche im Gespräch.

Frau Rasche, die Schwarzwaldtracht gehört zu den bekanntesten Trachten Deutschlands, dabei ist sie verhältnismäßig einfach und schmucklos. Was macht sie besonders?

Es gibt tatsächlich deutlich spektakulärere Trachten, wie im Schaumburger Land mit den wahnsinnig großen Schleifen, oder die Trachten aus dem Ochsenfurter Gau mit ihren unfassbar üppigen Ärmelformen. Die Schwarzwaldtracht machen andere Faktoren interessant. Etwa, dass sie in einem sehr abgelegenen Gebiet mit besonders traditionsbewussten Menschen entstanden ist, in dem es schon sehr früh Tourismus gab. Der signifikante Bollenhut ist auch ein Politikum, weil er in drei protestantischen Dörfern entstanden ist, die erst seit 1810 zu Baden gehören. Vorher waren sie württembergisch. Es war also schon ein deutliches Statement, als Großherzogin Luise kaum 50 Jahre nach der Übernahme den Hut auf ländlichen Festen trug. Dass die Schwarzwaldtracht ansonsten eher zurückhaltend, größtenteils in Schwarz und Weiß daherkommt, fällt dann im kulturellen Gedächtnis nicht mehr so sehr ins Gewicht.

Steht ihre Schlichtheit auch in der Tradition protestantischer Zurückhaltung? Schließlich waren die drei Ursprungsdörfer eine evangelische Enklave im katholischen Badischen.

Da kann es schon einen Zusammenhang geben, ab dem 19. Jahrhundert hat es ja wirklich eine protestantisch geprägte Reduktion auf einfache Materialien und Farben gegeben. Aber das würde für den restlichen Schwarzwald nicht als Argument gelten. Es mögen verschiedene Gründe den Ausschlag geben, oft spiegeln sich in Trachten die Farben der Herrscher und ihrer Wappen. Und manchmal war auch einfach die Verfügbarkeit einer bestimmten Färbung in der jeweiligen Region ausschlaggebend.

In den drei Dörfern Gutach, Kirnbach und Hornberg-Reichenbach gab es durchaus Bestrebungen, den Bollenhut wieder ganz für sich zu beanspruchen – auch Jahrzehnte noch, nachdem er längst vom Rest des Schwarzwaldes als Symbol übernommen wurde.

Solche Empfindlichkeiten gibt es doch immer wieder. Ich komme zum Beispiel aus Salzburg, da sind wir recht heikel, wenn es um die Frage geht, wer eigentlich Mozartkugeln herstellen darf. In den drei Dörfern gibt es je Generation nur zwei Frauen, die den Bollenhut auf traditionelle Weise herstellen – und sie können wirklich stolz sein auf ihr Handwerk! Wegen der 14 schweren Wollkugeln muss der Grundhut sehr stabil sein. Er wird aus gebleichtem Roggenstroh unreifer Halme, die fester sind, doppelt geflochten und dann mit einem alabasterfarbenen Gipsgemisch bestrichen. Der obere Teil wird schwarz bemalt, damit keine hellen Stellen durchscheinen, wenn die 14 Bollen aus ungefähr zwei Kilogramm Schurwolle aufliegen. Dieses ganze Prozedere dauert circa zwei Wochen und der Hut kostet dann um die 2000 Euro.

Adelheid Rasche Thema Tracht

Bollenhut mit Unterhaube, aus dem Gutachtal, um 1890. Zu sehen im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg.

Tracht Dior Full Look

Bluse, Korsett, Rock und Stiefel von CHRISTIAN DIOR; Kopfschmuck von SCHWARZWALD COUTURE BY KIM SCHIMPFLE.

Was hat es semiotisch mit den 14 Bollen auf sich?

Das weiß man bis heute nicht. Oft werden sie als Symbol für die 14 Nothelfer erklärt. Aber da das katholische Heilige sind, ergibt es für die Hüte, die just aus drei evangelischen Dörfern stammen, keinen Sinn. Es waren auch gar nicht immer 14, das ist erst ab den 1880er Jahren so. Von den 14 übergroßen Bollen sind 11 sichtbar, drei liegen darunter. Womöglich ist das auch schon die ganze Erklärung: Damit die Bollen oben schön gleichförmig aufliegen, müssen noch drei drunter gemacht werden – und dann sind’s eben 14.

Liest man in Trachtendetails ohnehin öfter mal Symbole hinein, obwohl sie auf rein ästhetischen Entscheidungen beruhen?

Ich glaube schon, dass vieles ausgewählt wurde, weil es prächtig aussieht. Oder es hatte ursprünglich eine bestimmte Funktion, die irgendwann verloren gegangen ist. Bei den meisten Trachten ist auch die Anzeige der Lebensstadien ganz entscheidend. Bei dem verheirateten Mann in der Schwalm ist eine kleine Ecke der Kappe grün, bei dem unverheirateten rot, zum Beispiel. Den roten Bollenhut tragen im Schwarzwald ledige Frauen, den schwarzen verheiratete oder verwitwete. Das Überleben der eigenen Familie ist ja früher ein enorm wichtiges Bedürfnis gewesen, und somit die Weiterführung der Familie über die Heirat der Kinder. Das ist natürlich heute nichts mehr, wofür man seine Kleidung instrumentalisieren würde. Solche Symbole haben sich in der Volkstracht eben gehalten. Aber so statisch, wie wir sie heute wahrnehmen, waren die Trachtenformen nicht immer. Sie entwickeln sich erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht mehr wirklich weiter.

Wie meinen Sie das? Wie haben sich denn überhaupt die heutigen Volkstrachten ergeben?

Erstmal ist schon das Wort „Tracht“ ein wenig schwierig. In der Forschung benutzen wir das heute nicht mehr unreflektiert. Im 19. Jahrhundert bezeichnete man damit allgemein die Kleidung. Heute sprechen wir eher von „ländlicher Kleidung“, die auch den Ursprung von dem darstellt, was nun gemeinhin „Volkstracht“ genannt wird. Und diese Kleidung der Bäuerinnen und Bauern ist eben nicht über Jahrhunderte unverändert geblieben. Aber in den 1820er und 1830er Jahren fingen Grafiker und Künstler an, sich dafür zu interessieren und sie zu zeichnen. Sie fixierten also individuelle Kleidungsformen, die mit den Jahren dann als allgemeingültig wahrgenommen wurden. Auch Sammlerinnen und Sammler sowie Museen orientieren sich dann an diesen Zeichnungen. Es ist ein ständiges sich Berufen auf bestimmte Quellen und damit wird die echte Kleiderrealität der bäuerlichen Bevölkerung vergangener Jahrhunderte überlagert. Das Bild einer beinahe unveränderlichen Tracht verfestigt sich dann weiter mit der Einführung von Trachtenfesten und einer Trachtenkultur ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, mit der eine regionale Zusammengehörigkeit hergestellt werden sollte.

Klettgauer Tracht Schwarzwald

Traditionelle Klettgauer-Tracht an unserem Model Maike Inga. Fotografiert von Julia von der Heide für die aktuelle Ausgabe von Achtung Mode “Schneewittchen im Schwarzwald”.

adelheid rasche über trachten

Figurine einer Schwarzwälderin aus Schonach, entstanden vor 1905, die zusammengestellte Kleidung datiert zwischen 1830 und 1900. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg.

Offenbar brauchen die Menschen solche statischen Bilder, an denen sie sich festhalten können. Nicht wenige Trachtenvereine erfreuen sich wieder an Zulauf.

In einer globalisierten Welt spielt für viele Menschen sicherlich die Stärkung der regionalen Identität wieder eine Rolle, oder überhaupt eine Rückbesinnung auf das Regionale. Das sehen wir ja auch an Ernährungstendenzen und anderen Trends. Und gerade, wenn wir über den Schwarzwald sprechen, ist die Tracht immens wichtig für den Tourismus. Für mich ist aber eine andere ihrer Aufgaben auch ganz wesentlich: Sie erhält fast verloren gegangenes Handwerk, am Beispiel des Bollenhuts kann man das ja ganz deutlich erkennen.

Sind Trachten nicht auch eine sehr emotionale Angelegenheit, wenn man bedenkt, dass sie oft über Generationen vererbt werden?

Sicherlich! Die Tracht stirbt nicht mit dem Menschen, der sie angeschafft hat. Der Schäppel zum Beispiel – eine Brautkrone, die man ebenfalls im Schwarzwald trägt – wird von der Mutter an die Tochter weitergegeben. So eine Tracht oder ein Trachtenhut ist ein wichtiger Wertgegenstand, der als Familienbesitz gewahrt wird. Damit entsteht automatisch eine Art Festhalten an der Tradition. Da unterscheidet sich die Tracht ganz massiv von der Mode. Sie wird viel, viel länger getragen und ist mit mehr, oder mit anderen Emotionen belegt. Auch deswegen findet das Thema wieder mehr Anklang, weil das andere, also die Mode, eben oft in einer Beliebigkeit endet.

Zur Person: Adelheid Rasche ist Kunst- und Modehistorikerin. Sie studierte Kunstgeschichte und Romanistik an den Universitäten Salzburg und Reims, und promovierte 1988 zum Doktor der Philosophie. Ab 1990 leitete sie die Sammlung Modebild der Lipperheideschen Kostümbibliothek in Berlin. Seit 2017 ist sie Sammlungsleiterin für Textilien, Kleidung und Schmuck am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Adelheid Rasche ist auch Kuratorin und Autorin, sowie Mitglied verschiedener Fachjurys namhafter Modepreise.